© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Freude am Denken
Die feste Burg im eigenen Ich: Vor fünfzig Jahren verstarb José Ortega y Gasset
Eberhard Straub

Wer in Spanien überzeugen will, muß verführen kön nen", wie José Ortega y Gasset, vor fünfzig Jahren am 18. Oktober 1955 gestorben, einmal bemerkte. Der Philosoph vermutete bei seinen Landsleuten eine gewisse Scheu, sich auf Abstraktionen einzulassen. Aber Gedanken, die nicht unmittelbar ins Leben eingreifen, hielt er für unfruchtbar, und insofern teilte er das Mißtrauen seiner Nationalverwandten in die Glasperlenspiele weltfremder Intellektuallisten. Wie in einem Gespräch versuchte er den Leser in die Welt seiner Ideen hineinzuziehen, ohne ihn übermächtig auf den Weg seiner Gedanken zu zwingen.

Ihn empörte die moderne Traurigkeit, dies Gefühl, "halb Lahmheit und halb Hemmung, das ächzend durch unsere Seelen schlurft". Geselligkeit, Eleganz und guter Geschmack sollten eine intellektuelle Freude lebendig erhalten, die er zusehend unter seinen Zeitgenossen in Europa vermißte. Eine Freude, sich auf das Wagnis des Denkens einzulassen und auf die Überraschungen, die es bereithält für jeden, der sich nicht vor dem freien Denken und damit vor sich selbst ängstigt. Neugierig, wie er war, konnte er über die geringfügigsten und flüchtigsten Begebenheiten staunen.

Er konnte die Blicke, die spanische Männer in der Trambahn auf Frauen warfen, zum Anlaß nehmen, sich selbst wie den anderen sein Erstauntsein in erstaunlichen Assoziationen zu erklären. Er beschränkte sich zuweilen auf Andeutungen, um das imaginäre Gespräch nicht zu belasten, und überließ es dabei den Launen und Fähigkeiten seines Lesers, die Anregungen aufzugreifen und daran vielleicht eigene Gedanken und Vermutungen anzuknüpfen. Dieser der Welt sehr tapfer zugewandte Spanier, der die maniera gentile, den gelassen-heiteren Ton weltläufiger Geistigkeit beherrschte, vermied alle gelehrte Pedanterie, eben um im besten Sinne geistreich zu unterhalten.

Darüber wurde Ortega y Gasset zu einem europäischen Ereignis, zum Inbegriff des unerschütterlichen Europäers. Ihn bekümmerten die Krisen, die das alt gewordene Europa seit 1914 aus dem Gleichgewicht brachten. An den "Untergang des Abendlandes" mochte er nicht glauben. Beharrlich verkündete er den Europäern, daß Europa der einzige Kontinent sei, der einen Inhalt hat, der nicht Natur und Vorgeschichte ist, nur Raum wie Amerika, sondern der eine Geschichte hat, der Geschichte ist. Die Geschichte aber ist die Natur des Menschen, der das Tier verstieß und deswegen zur Freiheit fand.

Der Mensch ist allein, auf sich gestellt und immer hinter sich her, um sich selbst zu gewinnen, also die Vorstellung zu leben, die er von sich selber hat. Leben ist aber immer Zusammenleben. Das Ich stößt auf den Anderen, auf die vielen Anderen, die ihm als Gesellschaft gegenüberstehen, ihn mit Bräuchen, Meinungen und Institutionen davon abhalten, zu sich selbst zu finden und auf die er dennoch angewiesen ist, um sich in freier Selbstbestimmung wenigstens der Vorstellung anzunähern, die er von sich hat und an der festhalten möchte.

Das Leben bleibt deshalb immer dramatisch und gefährlich, weil die Spannungen des unerschöpflichen Ich mit seiner Umwelt nie ausgeglichen werden können. Das macht den Inhalt der Geschichte aus, die ein unübersichtliches Nebeneinander und Nacheinander von Geschichten ist, die konkrete Menschen in konkreten Situationen unter den Herausforderungen des jeweiligen Augenblickes erlebten.

Ortega gab sich nie der Illusion hin, ein Mensch könne schuldlos unter dem Eindruck der ihm wenig deutlichen Zusammenhängen der wechselnden historischen Momente seine ganz ureigene Geschichte erleben. Als zusammengesetztes Wesen, so vielen Zwängen und Einflüssen unterworfen, darf er allerdings nie den heroischen Mut verlieren, die Treue zu dem Bild, das er sich von seiner Lebensaufgabe gemacht hat.

Und sei es, daß er nur als Schiffsbrüchiger sich selbst behauptet ohne große Hoffnung, festes Land wieder zu erreichen. Das bedeutete für Ortega, sich von allem Mittelmäßigen zu lösen, nicht dem Massenmenschen in sich nachzugeben und die Ansprüche an sich zu senken, sondern wie Don Quijote den Anforderungen zu folgen, die das Ich beharrlich stellt.

"Ich weiß, wer ich bin", sagte der edle Ritter. Seine Geschichte ist die Geschichte seines ureigenen Dramas, die verwirrenden Wirklichkeiten zu enttäuschen und im eigenem Ich die feste Burg zu erreichen, die vor Einbildungen und Trug der Umwelt schützt.

Ortega y Gasset - ein Wirklichkeitswissenschaftler - sprach viel von Verfassungen, Gesellschaft und Staatsformen, von den kollektiven Kräften und Überzeugungen, die Ordnungen zusammenhalten und die einzelnen und vereinzelten dazu aufmuntern, gemeinsam etwas zu machen, sich an dem zu beteiligen, was alle angeht. Aber im Mittelpunkt der Welt als Geschichte steht für ihn doch immer der Mensch. Mit dem Heiligen Augustinus glaubte er: Wir sind die Zeit. So wie wir sind, so werden die Zeiten sein. Deswegen hängt alles vom Einzelnen ab, daß er sich nicht in der Welt verliert und sich - von deren ideologischen Zaubertand getäuscht - von sich ablenken läßt.

Weil die Ideologien sich des ganzen Menschen bemächtigen wollen, galt ihm der entschlossene Einzelne, der energisch und klaglos am Traum von sich festhält, als letztes Mittel, den flüchtigen Augenblicken im Bollwerk der eigenen Person Dauer zu verleihen. Damit vollendete er Traditionen, die bis zu den großen Dichtern, Theologen und Moralisten des goldenen Zeitalters Spaniens zurückreichen.

In der schönen, neuen Welt, in der der Mensch zum Verbraucher aufgestiegen ist, bedarf man solcher Aufforderungen nicht mehr. In den gleichförmigen Einkaufsparadiesen würde ein selbstbewußter Einzelner, der nicht an seinem design bastelt, sondern an einem Entwurf seines Ich als geistiger Existenz, erheblich stören. Nicht zuletzt deswegen ist der ehedem so berühmte Ortega y Gasset mittlerweile fast vergessen.

Foto: José Ortega y Gasset (1883-1955): Wirklichkeitswissenschaftler


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