© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Zeitschriftenkritik: Lettre International
Weltgeschehen im Großformat
Thorsten Thaler

Äußeres Markenzeichen der viermal im Jahr erscheinenden Kulturzeitschrift Lettre International ist ihr großes Format, das sie im Zeitschriftenhandel herausragen läßt, für die Lektüre in öffentlichen Verkehrsmitteln oder der heimischen Badewanne aber denkbar ungeeignet ist. 1984 in Paris mit zunächst einer französischen Edition ins Leben gerufen, erschien das erste deutsche Heft im Mai 1988, anfangs in verlegerischer Kooperation mit der linksorientierten Berliner tageszeitung, seit Mitte der neunziger Jahre als unabhängige Zeitschrift. Weitere Landesausgaben gibt es derzeit in Italien, Spanien, Dänemark, Bulgarien, Ungarn, Rumänien und Makedonien.

Ihrem Selbstverständnis nach versteht sich Lettre International als intellektuelles und interdisziplinäres "Laboratorium der Neugier". Die Verantwortlichen um Redaktionsleiter und Geschäftsführer Frank Berberich wünschen sich "eine kosmopolitische Polyphonie freier, kritischer Wortmeldungen, die dazu beiträgt, sich über Grenzen hinweg mit den Augen anderer zu sehen, dem Provinzialismus der großen Kulturen entgegenzuwirken und kreativ mit den spannungsgeladenen Prozessen der Europäisierung und Globalisierung umzugehen". Jede Ausgabe bietet dazu Reportagen, Hintergrundberichte, Interviews und Essays aus unterschiedlichen Weltregionen, allesamt längere Lesestücke in deutscher Erstveröffentlichung.

Die aktuelle Nummer enthält unter anderem sieben Reportagen aus Mekka, Bagdad, Bombay, Peru, Indien, Kolumbien und Simbabwe, deren Autoren Anwärter auf den Lettre-Ulysses-Award sind, einen seit 2003 verliehenen Weltpreis für Reportageliteratur. Die diesjährigen Gewinner der mit insgesamt 100.000 Euro dotierten Auszeichnung werden am Sonntag (15. Oktober) in Berlin bekanntgegeben.

Mit der imperialen Überhebung der USA beschäftigen sich vier weitere Beiträge, darunter ein erschütternder Report des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Chalmers Johnson über die Zerstörung der historischen Stätten und Altertümer im Irak ("Marodeure in Babylon"). Johnson erinnert an die Plünderung des Nationalmuseums und die Brände der National- und Koranbibliothek im April 2003 in Bagdad unter den Augen der tatenlos zusehenden US-Soldaten. Unschätzbare kulturelle Zeugnisse - das Land zwischen Tigris und Euphrat gilt als eine Wiege der Zivilisation - seien verlorengegangen. "Es ist keine geringe Leistung der Bush-Regierung", schreibt Johnson, "für die älteste menschliche Vergangenheit ein ebensolches Chaos und einen vergleichbaren Mangel an Sicherheit wie für die irakische Gegenwart geschaffen zu haben." Im Vergleich zur Zerstörung der beiden aus dem 3. Jahrhundert stammenden Buddha-Statuen im afghanischen Bamian durch die Taliban im März 2001, so Johnson, mache sich die amerikanische Regierung heute im Irak angesichts der Zerstörung eines ganzen Universums des Altertums weit größerer Verbrechen schuldig.

Lettre International Verlagsgesellschaft mbh, Elisabethhof, Portal 3b, Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin. Das Einzelheft kostet 9,90 Euro, das Jahresabo für vier Ausgaben 37 Euro. Internet: www.lettre.de


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