© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Der Skandal um die Rußlanddeutschen
Rußland: Trotz Vereinbarung kam es nicht zur Wiedererrichtung der Wolgarepublik / Desinteresse in Berlin, Moskau und Brüssel
Wolfgang Seiffert

Während die internationalen Kritiker von Präsident Wladimir Putin nicht müde werden, dessen Tschetschenien-Politik zu verdammen, ignorieren sie weithin die vom Standpunkt der Menschenrechte völlig unbefriedigende Situation der Rußlanddeutschen. Sicher hat sich auch hier seit dem Niedergang des Sowjetsystems vieles zum Positiven geändert. Doch das eigentliche Erbe der Herrschaft Stalins, nämlich die Liquidierung der Republik der Wolgadeutschen, ist bis heute geblieben.

Zwei Drittel der 605.000 Einwohner waren Deutsche

Die 1918 gegründete Wolgarepublik hatte eine wechselvolle Geschichte. Der spätere Westberliner Regierende Bürgermeister Ernst Reuter (zunächst KPD, später SPD), der sich als deutscher Kriegsgefangener den Bolschewiki angeschlossen hatte, wurde vom Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, Wladimir I. Lenin, zum Volkskommissar ernannt und war bis Ende 1918 für das Gebiet zuständig. 1924 wurde dann die 28.200 Quadratkilometer große Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSR Njemzew Powolschja) gegründet. 1939 waren etwa zwei Drittel der 605.000 Einwohner Deutsche.

Am 28. August 1941, kurz nach Beginn des Krieges zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR, wurde die Wolgarepublik auf Weisung Stalins liquidiert. Zigtausende Rußlanddeutsche wurden aus dem europäischen Teil der Sowjetunion nach deren asiatischen Teil deportiert, zum Dienst in der "Arbeitsarmee" gezwungen, diskriminiert und vielen Repressionen ausgesetzt. Dennoch haben auch zahlreiche Rußlanddeutsche am militärischen Kampf auf seiten der Roten Armee und am Partisanenkampf teilgenommen - und zahlreiche Opfer gebracht.

Erst 1964 wurden die Wolgadeutschen offiziell rehabilitiert. Ihre ASSR wurde aber nicht wiedergegründet. Die Wiedererlangung ihrer Staatlichkeit wurde den Rußlanddeutschen als einziger nationalen Minderheit in Rußland bis heute verwehrt. Dies ist um so unverständlicher, als im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands und der Normalisierung der deutsch-russischen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland konkrete Vereinbarungen über die Zusammenarbeit bei der Wiederherstellung der Republik der Wolgadeutschen getroffen wurden.

Eine solche Vereinbarung ist in der deutsch-russischen Gemeinsamen Erklärung vom 21. November 1991 enthalten. In Punkt 12 des "Bonner Vertrages" wird ausdrücklich die russische Bereitschaft "zur Wiederbegründung der Republik der Deutschen in den traditionellen Siedlungsgebieten ihrer Vorfahren an der Wolga" erklärt, und Deutschland hat dafür "vielfältige Hilfe" zugesagt. Schließlich wurde 1992 ein "Protokoll über die Zusammenarbeit zur stufenweise Wiederherstellung der Staatlichkeit der Rußlanddeutschen" zwischen der deutschen und der russischen Regierung unterzeichnet. Leider hat der damalige russische Präsident Boris Jelzin die Umsetzung dieser Vereinbarungen nicht energisch vorangetrieben, so daß viele Rußlanddeutschen es vorzogen, nach Deutschland umzusiedeln. Heute sind jedoch neue, günstige Bedingungen entstanden, die Staatlichkeit der Rußlanddeutschen wiederherzustellen, und der 60. Jahrestag des Kriegsendes wäre ein besonders geeigneter Anlaß gewesen.

Hierauf hat der Sprecher der Rußlanddeutschen in Rußland, Hugo Wormsbecher, in einem Brief an Präsident Putin hingewiesen (der Brief liegt in Kopie vor). Putin hat die Vorschläge Wormbechers nicht abgelehnt, sondern an die Regierung von Premier Michail Fradkow weitergeleitet. Putin selbst hat bisher keine Initiative ergriffen, wohl weil er (meines Erachtens zu Unrecht) fürchtet, föderalistischen oder gar separatistischen Tendenzen Vorschub zu leisten.

Bald wieder eine Million Deutsche in Rußland

Inzwischen kehren sogar Rußlanddeutsche aus Deutschland nach Rußland zurück, so daß die Zahl der in Rußland lebenden Deutschen bald wieder eine Million betragen wird. Rußland selbst unternimmt aus wirtschaftlichen Gründen gegenwärtig neue Anstrengungen, um qualifizierten Arbeitskräften aus dem Ausland die Einwanderung zu erleichtern. Wormsbecher hat daher Putin neue konkrete Vorschläge unterbreitet, wie man das Problem der Rußlanddeutschen schnell und leicht so lösen kann, daß dies dem wirtschaftlichen Aufschwung Rußlands dient.

Die Wiederherstellung der Staatlichkeit gibt zudem Putin die Chance, ein positives und konstruktives Zeichen menschenrechtlicher Behandlung nationaler Minderheiten zu setzen. Die Befürchtung, eine Republik der Rußlanddeutschen könnte zu einem ähnlichen Unruheherd werden wie Tschetschenien, ist absurd.

Das Gegenteil wäre der Fall: Die Republik der Rußlanddeutschen wäre sicher ein Musterbeispiel einer gegenüber Moskau loyalen Republik - bis 1941 war die Wolgarepublik eine der wohlhabendsten der Sowjetunion.

In der EU und deren Mitgliedstaaten wie auch in Deutschland wird die gegenwärtige Lage der in Rußland gebliebenen Rußlanddeutschen kaum beachtet. Im diesjährigen "Monitoringbericht des Europarates über Rußland" findet sich über die Rußlanddeutschen kein einziges Wort.

Der deutsche Berichterstatter, der SPD-Bundestagsabgeordnete Rudolf Binding, antwortete auf meine Anfrage, es habe "kein Mandat" gegeben, auf die Lage der Rußlanddeutschen einzugehen (das Schreiben befindet sich bei dem Autor). Die Situation ist ein Skandal, und es bleibt zu hoffen, daß sich dies unter der neuen Bundesregierung grundlegend zum Positiven ändert.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht in Kiel und lehrt jetzt am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Er verfaßte das Buch "Wladimir W. Putin - Wiedergeburt einer Weltmacht?"


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