© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Das fehlende Element
Konservatismus I: Die Verantwortung für die gegenwärtige Lage ist ungleich wichtiger als die Klärung des konservativen Wesens
Karlheinz Weißmann

Es gibt seit einem knappen Jahrhundert Umfragen unter Gebildeten zum Thema "Was ist heute konservativ?" Die Antworten sind langweilig, da vorhersagbar. Der eine beruft sich auf seinen Namen oder Titel, der das Konservative per se verbürgt, der zweite hätte es gern etwas anständiger oder frömmer, der dritte pflegt die Nostalgie, und der vierte sucht eine Bremse am Wagen des Fortschritts. Das Interesse daran, was konservativ ist, wuchs parallel zum Bedeutungsverlust des Konservativen. Wer auch immer die Umfrage in die Welt setzt, stellt sich bestenfalls eine "feuilletonfähige" (Rudolf Krämer-Badoni), aber ganz sicher keine politische Rechte vor.

Das Konservative betrachtet man bestenfalls als Dekor

Die gegenwärtige Debatte um das fehlende konservative Element in der Union oder im Parteienspektrum überhaupt - wie sie hier und da in den etablierten Medien geführt wird - unterscheidet sich nicht von diesem Gesellschaftsspiel. Nehmen wir zum Beispiel die Stellungnahmen des Historikers Michael Stürmer, eines Mannes, der nicht nur Zugang zum Machthaber hatte, sondern mehr als drei Jahrzehnte über einen Lehrstuhl für Mittlere und Neue Geschichte an der Universität Erlangen und - wichtiger noch - nicht unerheblichen publizistischen Einfluß verfügte. Das alles hat er politisch genutzt, um in Leitartikeln die Logik des Status quo zu verteidigen, die Dankbarkeit gegenüber dem atlantischen Partner zu zelebrieren und vor den Versuchungen der deutschen Geschichte zu warnen. Was bei Stürmer darüber hinausgeht - die kennerische Anspielung, das Durchblickenlassen der tieferen Einsicht und der sarkastische Kommentar zur Unfähigkeit der politischen Klasse - trägt nur dazu bei, seine Leser in Sicherheit zu wiegen, es belebt den bürgerlichen Glauben, daß auch unter den Geistigen und Gelehrten genügend Männer existieren, die das Richtige sehen.

Stürmer verkörpert jenen Typus des Intellektuellen der alten Bundesrepublik, der auf Distanz zur Linken hielt, aber aus den Lektionen der Demokratiewissenschaft gelernt hatte, daß es auf die Mitte ankommt und von den Rändern nur Unheil droht. Das Konservative betrachtet man bestenfalls als Dekor, sicher als Element der persönlichen Lebensgestaltung, aber nicht als politischen Faktor. Sobald in der Union ein rechter Flügel oder neben ihr eine seriöse Alternative entstünde, hätte sie in Stürmer einen Gegner. Was auch immer er sagt oder schreibt, wie scharf seine Kritik der Herrschenden oder der herrschenden Verhältnisse ausfallen mag, er bleibt ein Teil des Establishments und wird helfen, dessen Geheimnis zu hüten: die Verantwortung für die gegenwärtige Lage.

Die Klärung dieser Verantwortung ist ungleich wichtiger als die Klärung des konservativen Wesens. Denn in dem Grad, in dem die Einsicht in das Ausmaß der Krise zunimmt, werden die Anstrengungen verstärkt, deren Ursachen zu verschleiern. Arbeitslosigkeit, Verschuldung, Steuerlast, Staatsquote, demographischer Kollaps, Zuwanderung, Bildungskatastrophe und Zerfall der inneren Sicherheit erscheinen wie Naturvorgänge: bedauerlich, aber unabwendbar und, wenn überhaupt, dann erst zu einem späteren Zeitpunkt reparabel. Regierung und Opposition wiederholen zwar rituell und wechselseitig Vorwürfe im Hinblick auf aktuelle oder frühere Versäumnisse, aber niemand ist daran interessiert, die tieferen Gründe für eine derartige Fehlentwicklung festzustellen. Denn dann wäre man gezwungen, die eigene Mitschuld zuzugestehen, die personelle Verwicklung, die Inkompetenz, die Bereitschaft zum Zugeständnis wider bessere Einsicht, die Konzession an Wählerwünsche oder die öffentliche Meinung.

Schröder hat abgeräumt, was noch vorhanden war

Der Bielefelder Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg sprach unlängst davon, daß die Elite sich verhalte, als ob sie das Land "aufgegeben" habe. Dem läßt sich kaum widersprechen, und das ist um so bedenklicher, als die Nation zum ersten Mal seit 1945 gezwungen wird, selbständig auf die Herausforderungen staatlicher Existenz zu reagieren. Das Dasein als "glückliche" und dann als "unglückliche Kolonie" (Richard Sennett) hat ein Ende. Die Probleme sind nicht länger nur gesellschaftlicher, sozialer oder ökonomischer Natur, sondern politischer. Was an Halterungen auch nach der Wiedervereinigung noch vorhanden war, hat Gerhard Schröder mit einer Mischung aus Unbekümmertheit und Unbedachtheit weggeräumt. Unbekümmert, weil er als Repräsentant eines "neuen Deutschland" auftritt, das sich selbst gesetzt hat -unbedacht, weil der Versuch, im Weltmaßstab mitzuspielen, ohne qualifiziertes Personal, finanzielle und militärische Ressourcen und ohne Strategie nur scheitern kann.

Vielleicht versucht die künftige Regierung, den Rückzug anzutreten, aber sie wird ihn versperrt finden. So zweifelhaft die positive Bilanz Schröders aussieht, das immerhin hat er erreicht: Die Nachkriegszeit ist mit der "Ära Kohl" zu Ende gegangen. Die neue Lage erzwingt eine Reaktion, und alles hängt davon ab, wie angemessen diese Reaktion ausfällt. Zu Optimismus gibt es wenig Anlaß. Im Zweifel bekommen wir eine Wirtschaftspolitik, die weiter auf ein Wachstum fixiert ist, das es so nicht mehr geben wird, eine Sozialpolitik, die das "Soziale" auch nur für ein System der Alimentierung von Bedürftigen und Faulen hält, eine Bevölkerungspolitik, die vor allem das Interesse der gegenwärtigen Generation und die Rentenfrage umtreibt, eine Sicherheitspolitik, die nach langen Jahren der Denunziation aller Obrigkeit der neuen Lust am Durchgreifen frönt, und eine Staatspolitik, die die Legitimation - wenn überhaupt - in einem pausbäckigen Optimismus sucht. Ein grundsätzlicher Wandel ist nicht zu erwarten. Der steht erst bevor, wenn auch dieser Ansatz scheitert.

Bei einem Gespräch Anfang der neunziger Jahre sagte mir Elisabeth Noelle-Neumann, das Hauptproblem der Konservativen sei ihre Ungeduld. Wir sollten ruhig bleiben, die Zeit arbeite für uns. Die Ideen der Achtundsechziger erledigten sich von selbst, die Einsicht in die Notwendigkeit neuer Normalität werde schneller durchgesetzt sein, als ich glaubte. Das war gut gemeint, und die Prognose entsprach in vielem den Tatsachen. Allerdings war eine Voraussetzung dieser Argumentation, daß die Verhältnisse im allgemeinen so blieben, wie sie waren, und kein weiterer Substanzverlust zu befürchten stand. Und das war eine Fehleinschätzung.

Einen Bonus auf Prophetentum gibt es nicht

Erst jetzt wird ganz deutlich erkennbar, was konservative Kritiker schon früh als "Wollust der Schwäche" (Winfried Martini) bezeichnet haben: die strukturelle Unfähigkeit, auf lange Sicht zu planen und jenes Element kollektiver Selbstbehauptung in Rechnung zu stellen, ohne das staatliches Dasein unmöglich ist. Aber in der Geschichte gibt es keinen Bonus auf Prophetentum oder die bessere Einsicht überhaupt, und weder steht eine Rehabilitierung der Konservativen bevor noch das Bekenntnis ihrer Gegner, im Irrtum gewesen zu sein.

Letztlich kommt es darauf auch gar nicht an. Die Lagerbildung der Zukunft wird sich aus ganz anderen und ernsteren Konflikten als den heutigen entwickeln, und in der Hauptsache wird die Linie dann verlaufen zwischen der Partei der Dekadenz und der Partei des Widerstands. Wie die bezeichnet wird, ist ganz gleichgültig.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und arbeitet als Studienrat in Göttingen.


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