© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/05 07. Oktober 2005

Opfer, Geiseln, Verräter oder Kriegsverbrecher
Vor fünfzig Jahren wurden in Friedland Spätheimkehrer aus der Sowjetunion willkommen geheißen / Die Urteile über diese Schicksale waren und sind ambivalent
Erich Kieckhoefel

Im Terminkalender des Bundespräsidenten ist der zweite Mittwoch im Oktober als Reisetag vorgemerkt. Ein nicht alltägliches Treffen mit alten Leuten, die nie eine Jugend hatten, steht im niedersächsischen Friedland auf dem Plan. Ministerpräsident Christian Wulff soll trotz der hektischen Koalitions- und Personalpolitik im Nachwahl-Berlin für einige Stunden protokollarische "Hausherren"-Pflichten in der heimischen Provinz wahrnehmen, Kirchenmänner einen ökumenischen Gottesdienst zelebrieren und das Landesmusikkorps der Polizei die Nationalhymne intonieren. Eingeladene Oberschüler können die Möglichkeit nutzen, Geschichtsunterricht am lebenden Objekt zu praktizieren, und am Ende gibt es Eintopf für alle.

Es werden nicht - wie vor einem halben Jahrhundert - die Sirenen heulen und die Kirchenglocken in den Dörfern am Westufer der Werra Sturm läuten, wenn sich die letzten der 9.628 heimgekehrten Gulag-Gefangenen von damals treffen, um im legendären Lager Friedland bei Göttingen jenes Augenblicks zu gedenken, als sie frei und aus vollem Herzen in den Choral "Nun danket alle Gott" einstimmten.

Ein halbes Jahrhundert ist seitdem vergangen. Die meisten von ihnen -zehn Jahre nach Kriegsende als "Spätestheimkehrer" eingruppiert und gefeiert - haben es nicht überlebt, und nicht wenige sollten in diesem für sie immer fremd gebliebenen Land nie eine neue Heimat finden.

Als Preis für die diplomatischen Beziehungen zwischen Bonn und Moskau, von den Sowjets im Frühling 1955 eingefädelt, von Bundeskanzler Konrad Adenauer im Kreml festgeschrieben, sollten die letzten "Kriegsgefangenen" freigelassen und heimgeschickt werden. "Kriegsgefangene", so die Sowjetführer, hatten sie zwar nicht anzubieten, sondern nur zu hohen Lagerstrafen - in der Regel zu 25 Jahren Zwangsarbeit - verurteilte "Kriegsverbrecher". Doch viele der heimgekehrten Frauen und Männer waren nie Soldaten, sondern die ersten Gefangenen des Kalten Krieges - unter ihnen von der SED an den sowjetischen Geheimdienst ausgelieferte "Parteifeinde" oder "sozialdemokratische Agenten des Ostbüros".

Zehn Jahre lang hatten die Russen nach Kriegsende mit den Zahlen der deutschen Kriegsgefangenen getrickst, Fakten manipuliert, Suchlisten als "Provokation" denunziert, ein zynisches, menschenverachtendes Hasardspiel mit den Gefühlen der Hinterbliebenen in Szene gesetzt. Am Ende wiederholten sie ständig, die letzten Kriegsgefangenen längst entlassen zu haben. Die ständige Frage nach den vermißten Söhnen, Vätern und Brüdern in den russischen Lagern belastete die deutsche Nachkriegspolitik über alle Maßen. Erst recht, nachdem bekanntwurde, daß ehemalige Stalingrad-Generale eine neue kommunistische Armee in der Sowjetzone aufbauten und in sowjetischer Gefangenschaft "umgedrehte" Offiziere wie der Ostberliner Polizeipräsident Paul Markgraf führende Stellungen in der SED-Nomenklatura einnahmen, wollte der Ruf nach den verlorenen Soldaten nicht verstummen. "Wo sind sie geblieben?"

So kamen mit dem ersten Transport aus Moskau am Abend des 6. Oktober 1955 vor allem freigelassene Generale zurück, unter ihnen ein Mann, dessen geschichtsträchtiger Name für die ganze Zerrissenheit des deutschen Offizierskorps stand: Walter von Seydlitz, der als General in Stalingrad kapitulierte. Aus innerer Überzeugung wandelte er sich zu einem Hitlergegner, wurde in Gefangenschaft Präsident des Bundes Deutscher Offiziere und aktiver Frontpropagandist. Nur Kommunist wurde er nicht. Während seine "Kollegen" in die DDR entlassen wurden, um in neuer Uniform einer kommunistischen Ideologie zu dienen, mußte Seydlitz für 25 Jahre in den Gulag. Ein Mann wie er konnte dennoch in Friedland nicht damit rechnen, mit allgemeiner Freude empfangen zu werden. Er wurde bis zu seinem Tod den Ruch des Verräters nicht los.

Fünfzig Jahre später müssen sich die Überlebenden von 1955 gefallen lassen, daß man - auf Einzelfälle wie den Ernährungsinspektor der Waffen-SS Ernst-Günter Schenck gestützt - in ihren Reihen "tatsächlich wohl über tausend wirkliche Kriegsverbrecher" ausmachen will, wie Sven Felix Kellerhoff in der Welt (24. August 2005) schreibt. Diese Zahl ermittelt Kellerhoff aus einer Wahrscheinlichkeitsrechnung auf dem "Stand der seriösen militärgeschichtlichen Forschung", nämlich daß etwa fünf Prozent ("vielleicht auch doppelt so viele") aller Wehrmachtsangehörigen und ein wesentlich höherer Anteil bei den Soldaten der Waffen-SS Kriegsverbrecher gewesen sein dürften. Auf die Spätheimkehrer sei diese Schätzung deshalb noch vorsichtig angesetzt. Vielleicht stützte man sich in Moskau vor 1955 auf ähnliche Schätzungen.

Fotos: Heimkehrertransport deutscher Frauen in Friedland, Oktober 1955: Die ersten Gefangenen des Kalten Krieges


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