© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/05 07. Oktober 2005

Vielleicht visafrei nach Königsberg
Ostpreußen: Der russische Oblast Kaliningrad erhielt vorzeitig einen neuen Gouverneur / Große Hoffnungen und Erwartungen
Wiebke Dethlefs

Am 28. September wurde in Königsberg, das seit 1946 Kaliningrad heißt, der neue Gouverneur Georgij Valentinowitsch Boos ins Amt eingeführt. Presse und Bevölkerung waren überrascht, denn die Amtszeit von Wladimir Jegorow hätte erst am 9. Dezember enden sollen. Die genauen Gründe, die zur Ablösung des 66jährigen Jegorow geführt haben, bleiben unklar.

Es gab Korruptionsvorwürfe, auch wurde von hohen Moskauer Funktionären geäußert, daß unter Jegorow das Gebiet heruntergewirtschaftet worden sei und die Probleme der Wirtschaft wie auch der Ökologie ungelöst blieben. Besonders die Immobilienspekulation an der Ostseeküste und auf der Kurischen Nehrung soll so gegen die geltenden Gesetze verstoßen haben, daß es höchste Zeit sei, die alte Gebietsregierung abzulösen.

Auf Jegorow, der sich während Boos' Amtsbestätigung im Urlaub befand, scheint jetzt ein besonderer Druck ausgeübt worden zu sein, da er sich ursprünglich weigerte, sein Amt so kurz vor dem Auslaufen der Amtszeit niederzulegen. Bei der Bevölkerung der russischen Exklave, die das nördliche Ostpreußens umfaßt, ist Jegorow in guter Erinnerung: Er sei "nicht der schlechteste" gewesen, hieß es in der örtlichen Presse. "Er hat viel für die einfachen Leute getan und war stets für einen Dialog offen gewesen. Ihn zu lästern wäre unwürdig."

Jegorow, der im Westen als farblos und ohne Initiativkraft galt, wurde durch einen 42jährigen Nachfolger ersetzt, der bisher nur wenig in der Politik aktiv war, jedoch mit dem Kaliningrader Gebiet schon längere Zeit inoffiziell verbunden ist. Boos sponsert seit längerer Zeit die jährlichen Kaliningrader Orgelwettbewerbe, auch wird behauptet, daß das vor einigen Jahren renovierte und neu gegründete Gestüt Georgenburg (Majovka) bei Insterburg, auf dem Reiche aus ganz Rußland Reiterurlaube verbringen, zu seinem Besitz zählt.

Boos, dessen Familie Anfang des 18. Jahrhunderts aus Holland einwanderte, wurde 1963 in Moskau geboren, studierte Physik und trat nach Ende des Studiums 1986 in die Armee ein, wo er als Technischer Offizier tätig war. Nach Auflösung der Sowjetunion gründete er 1992 eine kleine Privatfirma, die auf Beleuchtungssysteme spezialisiert war. Dieses Geschäft scheint während der Jelzin-Ära recht erfolgreich gewesen zu sein, denn bereits drei Jahre später war Boos Herrscher über zehn große Filialen und insbesondere zuständig für die künstlerisch ausgerichtete Illuminierung von 350 Kulturdenkmälern bzw. Verwaltungsgebäuden in Moskau, unter anderem des Kremls und des Gebäudes der Stadtverwaltung.

Durch die Kontakte zu Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow und dessen Partei Otjetschestwo (Vaterland) kam Boos in Berührung mit der Tagespolitik, wo er als Duma-Abgeordneter schnell in höher emporsteigen konnte. Bereits 1998 wurde er Chef des staatlichen Steueramts, das unter seiner Führung bald in den Rang eines Ministeriums erhoben wurde.

Mit dem Motorrad zum Parlament gefahren

Seine Wahl zum Gouverneur (als Wunschkandidat von Präsident Wladimir Putin, der ihn als "einzigen und besten" apostrophierte) erfolgte in Kaliningrad mit nur zwei Gegenstimmen, 27 Abgeordnete votierten für ihn. Man erhofft sich von ihm eine stärkere Resistenz gegenüber der Korruption, da er als Unternehmer selbst über ausreichend finanzielle Mittel verfügt. Er gilt als volkstümlich und unkonventionell - in seiner Zeit als Duma-Abgeordneter in Moskau pflegte er mit dem Motorrad zum Parlament zu kommen, während seine Amtskollegen mit schweren Limousinen anreisten. Er tritt im Freundeskreis als Gitarrensänger auf und liebt es, mit dem Fesselballon zu reisen. Eine Woche vor seiner Einführung kam er mit der Eisenbahn nach Königsberg, um selbst einmal die komplizierte Transitreise von Moskau in die Exklave durch Weißrußland und Litauen zu erleben.

Boos, der inzwischen Mitglied von Putins Partei Einheit Rußlands ist, sieht in der größtmöglichen Ausschöpfung aller wirtschaftlichen und kulturellen Ressourcen des Kaliningrader Gebiets eine seiner wichtigsten Aufgaben. Dabei betrachtet er die Exklavenposition nicht als Nachteil. "Wir können in fünf Jahren unseren litauischen und polnischen Nachbarn in nichts mehr nachstehen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit mehr auf die exportorientierten Zweige der regionalen Industrie lenken, damit wir uns auf dem Weltmarkt behaupten können. Die Kennzeichnung 'Hergestellt in Kaliningrad, Rußland' soll im In-und Ausland zu einem gern gesehenen Warenzeichen werden", meint Boos.

Die landschaftlichen Schönheiten Nordostpreußens will er besser dem Tourismus erschließen, die reichen Erdöl- und Erdgasvorkommen des Gebiets ökonomisch effizienter nutzen. Bisher gibt es dort kein petrochemisches Werk, umständlich werden Gas und Öl erst nach Rußland transportiert, um später ebenso kostenaufwendig zurücktransportiert zu werden. Auch liegt ihm das Wohnungsproblem am Herzen, eine großangelegte Sanierung insbesondere der (überwiegend noch staatlichen) Wohnungen der Kaliningrader Neubaugebiete der siebziger und achtziger Jahre sieht er als vorrangig an.

Doch zuvor plant er eine Umstrukturierung des Machtapparats: Er selbst wird dabei an der Spitze der neuen Regionalregierung stehen, die, neu gegliedert, vier Ressorts aufweisen soll: ein Wirtschaftsamt (zuständig für Industrie, Kommunales, Energie, Straßenverkehr und Tourismus), ein Sozialamt, ein Finanzamt und ein reines Verwaltungsamt, dem eine Kontroll- und Revisionsbehörde angeschlossen sein soll.

Doch hat auch der Westen einen Wunsch an den neuen "starken Mann" am Pregel: Vielleicht werden unter seine Ägide endlich die umständlichen Einreiseformalitäten für EU-Bürger gelockert. Visafrei nach Königsberg 2007? Das dürfte nicht unmöglich sein, wenn auch den Kaliningrader Bürgern ohne aufwendige Visabeantragung in Moskau umgekehrt gleiches gewährt wird.


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