© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/05 07. Oktober 2005

Sturm auf Europa
Eine neue Einwanderungswelle rollt auf uns zu
Peter Lattas

So geht Einwanderung pur: Die Elenden der Welt stürmen die Mauern der "Festung Europa" und verschaffen sich gewaltsam Zutritt zum Paradies, wo Milch, Honig und Sozialleistungen fließen. Die Bilder aus Spaniens nordafrikanischen Exklaven Ceuta und Melilla sind ein Menetekel, das die Europäer nicht begreifen wollen. Die Armen, die mit selbstgemachten Leitern und improvisierten Rüstungen auf geheime Verabredung aus dem Dunkel hervorbrechen, den Stacheldraht um die EU-Außen­grenze in Afrika stürmen und zu Hunderten durch die unter Lebensgefahr geschlagenen Breschen strömen, sind nicht gekommen, um multikulturelle Glückseligkeit und wechselseitige Bereicherung der Kulturen zu praktizieren. Sie sind viele, sie haben nichts zu verlieren und sind verzweifelt zu allem entschlossen.

Zwölftausend haben nach spanischen Angaben seit Jahresbeginn versucht, nach Melilla und damit in den Schengen-Raum zu gelangen, um dort den Asylantrag zu stellen, der ihnen das Tor zum Paradies öffnen soll. Hunderte haben es allein in den Sturmangriffen der letzten Wochen auch geschafft. Die Invasion läuft zu Lande, zu Wasser und in der Luft - die Hungrigen auf der Suche nach einem besseren Leben kommen mit Linienflügen und Chartermaschinen ebenso wie mit Fischerbooten und Seelenverkäufern, die vor Malta oder Sizilien stranden und Lager wie auf Lampedusa füllen.

Die Reaktionen der Europäer auf diese Herausforderung sind ebenso schlaff wie widersprüchlich. Gewiß, Madrid setzt Truppen in Marsch, um seine Grenzen zu sichern. Gewiß, die spanischen Behörden arbeiten mit Hochdruck daran, den zwölf Kilometer langen Grenzzaun rund um die Exklave Melilla auf sechs Meter aufzustocken. Doch die abschreckende Wirkung bleibt begrenzt, solange Europa munter Signale aussendet, die den Wohlstandsuchenden aus aller Welt das Gegenteil nahelegen.

Entwirft die EU-Kommission Asylrichtlinien, laufen diese auf weitgehende Liberalisierung hinaus. Die Kommissare glauben gar allen Ernstes, daß eine forcierte Politik der "legalen" Einwanderung der illegalen den Wind aus den Segeln nehmen könnte. Als würde ein ungelernter Hilfsarbeiter aus einem Drittwelt-Slum auf seinen Einschleusungsversuch verzichten, weil die EU ja schon ein paar Ingenieure und Ärzte hereingelassen hat. Läßt sie aber einige Ungelernte über die Grenze, werden die anderen erst recht kommen wollen und sich nicht mit Quotierungen begnügen, bei denen sie selbst nicht zum Zuge gekommen sind.

Was soll ihnen auch passieren, wenn sie erst mal illegal über die Grenze gekommen sind? Schlimmstenfalls werden sie erwischt und zurückgeschickt und müssen es halt wieder probieren. Schaffen sie es aber, sechs Monate in Spanien zu bleiben und sich einen Job zu verschaffen, winkt auch schon die Aufenthaltsgenehmigung bei der nächsten Legalisierungswelle. Für diese Politik hat die spanische Regierung viel Lob von der EU-Kommission geerntet. In Ceuta und Melilla muß sie lernen, daß sie die illegale Zuwanderung damit nicht in den Griff bekommt, sondern erst recht anfeuert.

Daß Deutschlands Multikulti-Ingenieure dieses Patentrezept der turnusmäßigen nachträglichen Legalisierung illegaler Einwanderer unbeeindruckt übernehmen wollen, ist symptomatisch für deren ideologisch verbohrte Realitätsblindheit. Längst hängt in Europa alles mit allem zusammen. Wenn Madrid maghrebinische Einwanderer per Massentaufe mit legalem Aufenthaltsstatus ausstattet, findet mancher der so Geadelten den Weg nach Frankfurt und Berlin; und wenn die deutsche Botschaft in Kiew Schengen-Visa wie Freibier verteilt, bekommen auch die Arbeiter auf den Baustellen von Barcelona das Anwachsen der Billigkonkurrenz zu spüren.

Zu den erstaunlichen gesamteuropäischen Phänomenen gehört, daß gerade Linke, Sozialisten und Gewerkschafter sich zu den größten Fürsprechern der Einwanderungsfreigabe machen, obwohl sie damit der eigenen Klientel die Lohndrücker selbst ins Haus holen. Die internationale Solidarität, die noch immer in den Köpfen linker Sozialromantiker herumspukt, ist für Drittwelteinwanderer und osteuropäische Billigarbeiter ein Fremdwort. Sie wollen ihren Teil vom Kuchen, und zwar gleich.

Man kann sich ausmalen, welche Folgen unter diesen Umständen der - wiederum vor allem von der europäischen Linken vorangetriebene - EU-Beitritt der Türkei haben wird. Zu den Millionen Türken, die aufgrund des Wohlstandsgefälles nach Westen drängen werden, dürften sich ganze Heerscharen aus den angrenzenden orientalischen und kaukasischen Regionen gesellen, die nicht zögern werden, das türkische Einfallstor in den Kontinent der großzügigen Sozialleistungen zu nutzen. Es wäre töricht zu glauben, die Tausende Kilometer lange EU-Außengrenze mit Syrien, Irak oder Iran wäre leichter zu verteidigen als die paar Kilometer, die die spanischen EU-Exklaven von Marokko trennen. Zu schweigen von der weitaus geringeren Motivation der türkischen Grenzer, die Durchreisenden auf ihrem Marsch nach Westen aufzuhalten.

In den Achtzigern malte der Franzose Jean Raspail in dem Roman "Das Heerlager der Heiligen" seine Vision vom Untergang des Abendlandes aus: Ein Millionenheer von Elenden schifft sich in Indien auf verrosteten Kähnen ein, um das reiche Europa zu erobern, und der von Mitleid gelähmte reiche, alte Kontinent bringt den Mut nicht auf, die Invasion zu stoppen. Raspail hat dramaturgisch gerafft, was sich seither schleichend vollzieht. Das Tempo verschärft sich indes, und die Bilder werden der düsteren Vision immer ähnlicher, ebenso wie manche der erwogenen Gegenmaßnahmen. Berlusconis Koalitionspartner Bossi wollte bereits die Kriegsmarine gegen Flüchtlingsschiffe einsetzen. Großbritanniens Labour-Regierung und Deutschlands SPD-Innenminister Otto Schily machten sich in schönster Eintracht für zentrale Auffanglager in Nordafrika stark, die Asylsucher vom europäischen Hoheitsgebiet fernhalten sollen.

Den Europäern scheint zu dämmern, daß sie sich gegen die Invasion der Armen zur Wehr setzen müssen, soll die Grundlage ihres Wohlstandes nicht unter dem Übermaß der Ansprüche zusammenbrechen. Grenzsoldaten, Zäune und Auffanglager können dabei helfen. Wirksamkeit werden solche Einzelmaßnahmen indes nur entfalten, wenn der wichtigste Anreiz für illegale Grenzgänger entfällt: Die Honorierung von Einwanderung durch soziale, finanzielle und aufenthaltsrechtliche Großzügigkeit. Auch ohne solche Verlockungen wird das wachsende Wohlstandsgefälle noch immer mehr Einwanderer nach Europa locken, als der Kontinent verkraften kann.

Foto: Illegale stürmen die EU-Außengrenze in der spanischen Exklave Melilla: Hunderte afrikanische Einwanderer haben es allein in den letzten Wochen nach Europa geschafft


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