© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/05 30. September 2005

Die Republik aufs Spiel gesetzt
Am Bruch der Großen Koalition 1930 und dem faktische Ende der parlamentarischen Demokratie hatte die SPD entscheidenden Anteil
Hans-Jürgen Wünschel

Die Geschehnisse nach der jüngsten Wahl könnten geeignet sein, über die Erinnerung an Jubiläumsdaten hinaus einige Mythen aus Politik und Kultur zu befragen. Fast unausrottbar ist die Meinung, daß zum Beispiel die Weimarer Republik an der hohen Zahl der Arbeitslosen, an der Agitation der Linken und Rechten zugrunde gegangen wäre. Das mag wohl für ihr letztes Jahr 1932 gegolten haben, doch da war die Republik kaum noch zu retten.

Merkwürdig ist, wie beharrlich viele Geschichtsbücher die Tatsache ignorieren, daß die komfortable Mehrheit der Regierung des Sozialdemokraten Hermann Müller, seit 1928 im Amt, von der größten Regierungspartei zunichte gemacht wurde und Müllers eigene sozialdemokratische Fraktion somit im März 1930 seinen Rücktritt erzwang.

Nationalsozialisten und Kommunisten haben der Weimarer Republik den Todesstoß versetzt. Das System lebensgefährlich erschüttert haben aber die Sozialdemokraten, die die erste Demokratie in Deutschland aus ideologischen Gründen zerstörten. Merkwürdig aktuell mutet es an, wenn wir lesen, warum 1930 die SPD-Fraktion des Reichstages ihrem Kanzler die Gefolgschaft verweigert: "Wir können ein imaginäres Staatsinteresse nicht über das proletarische Klasseninteresse stellen."

Die Regierung Müller hatte 301 von 491 Mandaten

Die Weimarer Republik begann als parlamentarisches System nach dem Vorbild der westlichen Demokratien. Dies bedeutet, die Regierung muß von der Mehrheit der Abgeordneten des Reichstages getragen werden. Schwindet diese, muß eine neue Mehrheit für eine neue Regierung gefunden oder in Neuwahlen eine neue Zusammensetzung des Parlamentes hergestellt werden. Nun sah die Weimarer Verfassung aber in den Artikeln 48 und 25 eine Möglichkeit vor, die besagte, daß auch der Reichspräsident ein Regierungskabinett berufen konnte, wenn das Parlament sich nicht auf die Bildung einer Regierung einigen konnte. Dies war als Ausnahme gedacht, um das Regieren zu gewährleisten.

Nach der Reichstagswahl von 1928 setzte sich das Parlament folgendermaßen zusammen: SPD 153, Zentrum 61, DVP 45, DNVP 73, DDP 25, BVP 17, KPD 45, NSDAP 12. Die von Hermann Müller gebildete Koalition konnte sich auf eine solide Mehrheit von Abgeordneten stützen. Die republikfeindlichen Parteien - NSDAP und KPD - spielten keine Rolle. Das Wahlergebnis hatte der SPD einen großen Sieg gebracht. Sie konnte ihre Mandate um 22 Abgeordnete vermehren, während die anderen Parteien mit Ausnahme der KPD teilweise beträchtlich Stimmen verloren. Bei einer Gesamtzahl von 491 Sitzen wurden zur Regierungsbildung 246 Abgeordnete benötigt.

221 Abgeordnete (DVP, DNVP, BVP, DDP und Zentrum) waren weder der SPD noch der KPD und der NSDAP zuzurechnen. Zur Kanzlermehrheit von 246 Stimmen wurden aber mindestens 25 Abgeordnete zusätzlich gebraucht. Eine Regierung mit einigen der sechzig Abgeordneten der vielen Splitterparteien hätte stets in der Gefahr gestanden, von Launen von Individualisten abzuhängen. Unter diesen Umständen gab es nur eine Möglichkeit der Regierungsbildung, nämlich mit der SPD.

Das neue Reichskabinett, das am 29. Juni 1928 gebildet wurde, verfügte denn auch über 301 von 491 Mandaten. Die Regierung Müller konnte also auf eine komfortable Mehrheit der sie tragenden Parteien SPD, Zentrum, DVP und BVP bauen. Klar war aber auch, daß bei einem Ausscheiden entweder der SPD oder des Zentrums oder der DVP diese Mehrheit verloren war. Andererseits konnte jede dieser drei Parteien die Durchsetzung eigener politischer Programmpunkte mit der Drohung des Ausscheidens verbinden, was sich als beträchtliche Belastung für die Regierung Müller erweisen sollte.

Vor 75 Jahren war es dann soweit. Im Winterhalbjahr 1929/30 zählte man etwa drei Millionen Arbeitslose. Doch die Kassen zur Unterstützung dieser Personen waren leer. Eine ordnungspolitische Grundsatzentscheidung stand an: entweder Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um ein halbes Prozent - eine Erhöhung also von einem Viertelprozent bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern - oder Begleichung aus dem Steueraufkommen. Zentrumspartei, Deutsche Volkspartei und Demokratische Partei schlugen die Festschreibung der Beiträge auf drei Prozent und die Entnahme des Betrages von 150 Millionen Reichsmark aus dem Reichshaushalt vor, was von Reichskanzler Müller (SPD), Innenminister Carl Severing (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Schmidt (SPD) ebenfalls befürwortet wurde, doch konnten sie sich in ihrer eigenen Fraktion nicht durchsetzen. Ernst Rudolf Huber schreibt dazu in seiner "Deutschen Verfassungsgeschichte": "Übereinstimmend erklärte die Mehrheit der Reichstagsfraktion (SPD) den Parteien-Kompromiß für unannehmbar. (...) Indem die SPD dem letzten von ihr gestellten Reichskanzler mit überwältigender Mehrheit die Gefolgschaft verweigerte, erzwang sie nicht nur den Wechsel des Kabinetts, sondern den Übergang zu einem Regierungssystem, das seinen Rückhalt statt in einer parlamentarischen Mehrheit in den verfassungsmäßigen Vollmachten des Reichspräsidenten suchen mußte."

Die SPD weigerte sich strikt, Verantwortung zu tragen

Noch am Abend des 27. März 1930 nahm Reichspräsident Hindenburg den Rücktritt des Kabinetts Müller an. Aufgrund der Tatsache, daß sich in den folgenden Wochen und Monaten die SPD strikt weigerte, Regierungsverantwortung zu übernehmen, konnte keine Regierung mehr gebildet werden, die das Vertrauen der Mehrheit der im Parlament versammelten Parteien hatte. Das Dilemma war gegeben: Der Reichspräsident mußte entsprechend den Bestimmungen der Weimarer Verfassung in Zukunft Präsidialkabinette berufen, an dessen Ende das Kabinett Hitler stand. Am 30. März 1930 wurde der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning zum Chef des ersten Präsidialkabinetts der Weimarer Republik ernannt.

Die Frankfurter Zeitung kommentierte am 28. März 1930 unter der Überschrift "Eine unheilvolle Entscheidung" die Haltung der SPD und meinte, daß der "Gegenstand des Streites mit seiner Kleinheit in einem grotesken Mißverhältnis zu den verhängnisvollen Folgen steht, die daraus erwachsen können. Es gibt ein Maß an Einsichtslosigkeit, das zur Schuld wird. Diese Schuld hat gestern die Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion auf sich geladen. Sie hätte dem schließlich gefundenen Kompromiß zustimmen müssen!"

Der späteren Bewertung des Historikers Helmut Hirsch in seiner "Geschichte der Weimarer Republik" (1972), daß "Hindenburg für die Ausschaltung der SPD von der Leitung der Geschicke des Reiches verantwortlich" gewesen sei, widersprach der Berliner Historiker Heinrich August Winkler inzwischen vehement ("Der lange Weg nach Westen", 1999): "Die SPD hat im entscheidenden Augenblick nicht alles getan, was in ihren Kräften stand, um die parlamentarische Demokratie zu bewahren. (...) Sie nahm die Abkehr von der parlamentarischen Demokratie billigend in Kauf und konnte sich daher von einer Mitverantwortung für den Übergang zum Präsidialsystem nicht freisprechen."

Was sich in den kommenden Monaten abspielte, ist nur vereinzelt in Darstellungen über die Zeit nachzulesen. Zusammen mit der KPD und der NSDAP lehnte die SPD die Regierungserklärung Brünings ab. Auch in Zukunft verweigerte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion die Unterstützung oder wenigstens die Tolerierung des Demokraten Brüning und stimmte so am 3. April und am 19. April mit den Rechts- und Linksradikalen. Am 18. Juli 1930 brachten die Sozialdemokraten sogar gemeinsam mit den Nationalsozialisten und Kommunisten einen Antrag gegen die Regierung ein.

Immer wieder versuchte der sozialdemokratische Ministerpräsident von Preußen, Otto Braun, seine Reichstagsgenossen zur Besinnung zu rufen und nicht zuzulassen, daß die SPD ihren Einfluß auf die Lenkung des Staates preisgab. Doch vergebens. Nachdem immer wieder die negative Mehrheit aus SPD, KPD, NSDAP und DNVP gegen die Politik Brünings stimmte, sah sich der Reichskanzler genötigt, den Reichspräsidenten um Auflösung des Reichstages zu bitten, in der Hoffnung, daß die Neuwahl endlich eine parlamentarische Unterstützung böte. Doch machten die Wahlen am 14. September 1930 offenbar, daß es keine Mehrheit für eine parlamentarische Demokratie mehr gab.

Während das Zentrum gegenüber den Wahlen von 1928 seinen Stimmenanteil von 3.712.000 auf 4.128.000, die Bayerische Volkspartei ihren von 946.000 auf 1.059.000 erhöhen konnte, erhielt die SPD nur noch 8,6 Millionen gegenüber 9,1 Millionen Stimmen des Jahres 1928. Analysen ergeben, daß die SPD sowohl an die KPD als auch an die NSDAP verloren hat. Huber schreibt in der "Verfassungsgeschichte", daß die Septemberwahlen "nicht nur eine Staatskrise, sondern auch eine Parteienkrise, insbesondere eine Krise der SPD" offenbarten.

Entwurzelte Arbeiterschaft strömte zur NSDAP

Nachdem die SPD in ihrer Zusammenarbeit mit den Rechts- und Linksextremen die bisher marginale NSDAP und die KPD hoffähig gemacht hatte, stieg der Anteil der NSDAP-Abgeordneten von 12 auf 107, der der KPD-Abgeordneten von 54 auf 77. Die Weimarer Koalition (Zentrum 68, SPD 143 und Staatspartei 20) erhielt nur 231 von 577 zu vergebenden Mandaten. Die Deutsche Volkspartei erhielt 30 Abgeordnete und die Deutschnationale Volkspartei 41 Abgeordnete. Ohne die SPD konnte wiederum keine Regierung - die über mindestens 289 Mandate im Parlament hätte verfügen müssen - gebildet werden.

Auch wenn in den späteren Monaten die Sozialdemokratie sich ihrer verhängnisvollen Entscheidung vom Sommer 1930 immer mehr bewußt wurde und nun einige Gesetze der Regierung Brüning tolerierte, gab es keinen Weg mehr zurück zur parlamentarischen Demokratie. Die Hoffnung der SPD- Fundamentalisten, sich in der Opposition zu regenerieren, hatte nicht nur getrogen, sondern auch deutlich gemacht, daß der Funktionärsstamm und die altbewährte Solidarität der Arbeiterwähler erschüttert war und die Anziehungskraft auf die Arbeiterjugend und eine bestimmte Schicht der Intellektuellen schwand. Schließlich strömte die entwurzelte Arbeiterschaft zur NSDAP, der linken Partei mit den rechten Parolen.

Einer der großen Sozialdemokraten der Zeit, der später von den Nationalsozialisten hingerichtete Julius Leber, schrieb rückblickend auf das Jahr 1930: "Der 27. März 1930 rächte sich furchtbar. Aus Furcht vor der Verantwortung hatte damals die Sozialdemokratie Einfluß und Macht von sich geworfen. (...) Viele Anhänger verstanden ihre Partei nicht mehr."

 

Dr. Hans-Jürgen Wünschel ist Akademischer Direktor des Historischen Seminars der Universität Koblenz-Landau und Professor an der Katholischen Universität Tschenstochau.

 

Foto: SPD-Maikundgebung vor dem Berliner Schloß 1930: Proletarisches Klasseninteresse statt Staatsräson

Foto: Reichskanzler Hermann Müller (SPD): Es rächte sich furchtbar


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