© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/05 30. September 2005

Teures Morgenland
Türkei: Ein EU-Beitritt hätte verheerende Folgen für die kleinstrukturierte Landwirtschaft / Sprengsatz für EU-Agrarpolitik
Harald Ströhlein

Die Gespräche mit der Türkei über deren Beitritt zur EU, die ab 3. Oktober beginnen sollen, sind eine konsequente Folge in einem gewollten Annäherungsprozeß, der im Jahre 1987 mit dem ersten Beitrittsgesuch seinen Anfang nahm. Im Dezember 2004 wurde dann von den 25 Staats- und Regierungschefs der EU der endgültige Termin für offizielle Beitrittsgespräche beschlossen - denen nun nichts mehr entgegenzustehen scheint.

In der Tat gibt es - rein ökonomisch gesehen - einige ernstzunehmende Gründe, die Aufnahme des Siebzig-Millionen-Landes am Schnittpunkt von Europa und Asien gutzuheißen. Die Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts in der Türkei liegt bei etwa acht Prozent. Deutschland ist mit großem Abstand vor Italien, Rußland und den USA der wichtigste Handelspartner. Schon heute verzeichnen die deutschen Exporte in die Türkei - dank Zollunion - jährlich zweistellige Zuwachsraten; neun Milliarden Euro waren es alleine im vergangenen Jahr. Wobei die türkische Lira bzw. der Euro erst noch rollen wird, denn Experten prophezeien durch den Türkeibeitritt "jahrelang überdurchschnittliches Wachstum und überdurchschnittliche Export- und Investitionsquoten" und damit ökonomischen Segen auch für deutsche Unternehmen.

Verhaltener sind dagegen die Aussichten für die Landwirtschaft, die sich am Bosporus und in Anatolien anders gestaltet als hierzulande. Gemüse, Obst und Korn genießen in der Türkei einen hohen Stellenwert. In dem Agrarland mit einer Fläche mehr als doppelt so groß wie Deutschland werden 54 Prozent (über 40 Millionen Hektar) landwirtschaftlich genutzt. So belief sich der Jahresexport der Türken an landwirtschaftlichen Produkten und Lebensmitteln auf einen Wert von 4,2 Milliarden Euro - im übrigen 70 Prozent davon zollfrei - in die EU.

Während rund fünf Prozent aller Erwerbstätigen in der EU säen, ernten und davon leben, tun dies über ein Drittel der türkischen Bevölkerung oder konkret über 7,5 Millionen Menschen. Trotz dieser vermeintlichen Agrarlobby ist der relative Beitrag mit etwa zwölf Prozent am Bruttoinlandsprodukt aber nur ein geringer. Der Grund dafür liegt zum einen an der kleinbäuerlichen Struktur: Zwei Drittel der über drei Millionen Betriebe nennen höchstens fünf Hektar ihr eigen, können also ihr Land zu Fuß abschreiten und ihre Tiere an den Fingern abzählen. Zum anderen fehlt es an Leistungsvermögen, wie beispielsweise angesichts seichter Getreideerträge je Hektar von nur 30 bis höchstens 60 Prozent des EU-Ernteniveaus in seinem ganzen Ausmaß sichtbar wird.

Viele Höfe in der Türkei würden sterben

Krasser könnten also die Gegensätze zwischen Okzident und Orient nicht sein, und es ist mehr als fragwürdig, die osmanischen Bauern unter die Ägide des Brüsseler Agrarsubventionsprinzips stellen zu wollen. Denn um diese in die EU-Gilde zu hieven, muß ein steiniger Weg beschritten werden, der - ohne Garantie auf Erfolg - mit vielen Euronoten zu pflastern ist. Über elf Milliarden Euro jährlich bräuchte man für die Integration der türkischen Landwirtschaft; rund acht Milliarden Euro bekämen die türkischen Landwirte direkt auf die Hand.

Daß diese Mittel von einem ohnehin schon begrenzten Agraretat gedeckt werden müssen, liegt auf der Hand. Dabei fehlen für das neue Jahr im EU-Agrarhaushalt mit einem Budget von knapp 43 Milliarden Euro für die Agrarmarktpolitik und gut sechs Milliarden Euro für die ländliche Entwicklungspolitik bereits Gelder in Höhe von 777 Millionen Euro. Deshalb sind jene Bauern gut beraten, sich rechtzeitig von dem zunehmend schwächelnden Subventionstropf zu emanzipieren. Denn für die Heranführung des Agrarstaates Türkei an den EU-Standard steht die Gemeinsame Agrarpolitik - neben der Kohle- und Stahlpolitik einstmals eine der Säulen der Gründung der EWG - ernsthaft auf dem Spiel.

Zudem gibt es Dinge zwischen Himmel und Erde, die nur bedingt mit Geld aufzuwiegen sind und die eigentliche Problematik der Ethnie und der Generationen in aller Schärfe aufzeigen. Zu denken ist dabei beispielsweise an das Viertel unter den türkischen (und kurdischen) Kleinbauern, die Analphabeten sind, und zudem an jene, die keine fachliche Ausbildung besitzen, welche aber für eine reibungslose Integration in die Europäische Union zweifelsohne unabdingbar ist.

Es sind mentale Barrieren, wenn es um ebenso notwendige Kooperationen zwischen den Höfen geht, um durch Synergieeffekte die weitere Existenz in einem sich verschärfenden Wettbewerb zu sichern. Vermutlich werden auch die straff ausgelegten Tier- und Umweltschutzauflagen aus Brüssel wenig Gegenliebe finden, selbst wenn deren Erfüllung mit einem mehr oder minder großen Subventionssegen verbunden ist.

Nach Einschätzung von Experten werden 75 Prozent der Betriebe - ausgenommen vermutlich die Großfarmen im Süden und Westen der Türkei - in einer gemeinsamen europäischen Zukunft nicht konkurrenzfähig wirtschaften können und deshalb aufgeben. In puncto Arbeitslosigkeit und Migration sind die Konsequenzen leicht abzusehen und oft beschrieben.

Die Aufnahme der Türkei in die EU - das wäre ein Bärendienst für die türkischen Bauern und ein Bärendienst für die europäische Landwirtschaft.


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