© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/05 30. September 2005

"Wir dürfen nicht kleingläubig sein"
Ungarn: Ex-Premier und Oppositionsführer Orbán will Privatisierungen überprüfen lassen / Angriff auf Regierungspolitik
Georg Pfeiffer

Ende August kündigte der ungarische Oppositionsführer Viktor Orbán vor einem Jugendforum in der westungarischen Stadt Köszeg (Güns) an, daß er im Falle seines Wahlsieges in der Vergangenheit durchgeführte Privatisierungen überprüfen und gegebenenfalls rückgängig machen werde, wenn sich Unregelmäßigkeiten zeigten oder Hinweise auf Korruption ergäben.

Weiterhin will er auch die Unternehmen wieder entprivatisieren, deren Verbleib in Staatshand "im Interesse der ungarischen Volkswirtschaft" liege, auch wenn es bei deren Privatisierung weder Unregelmäßigkeiten gab noch Korruption nachweisbar sei. "Wir dürfen nicht kleingläubig sein: Wenn eine Regierung jemandem sagt, er soll etwas zurückgeben, dann hat dies Gewicht", so Orbán. Er wolle die neuen Eigentümer "mit der Autorität der Regierung" auffordern, den Besitz zurückzugeben.

Weiterhin wandte sich der Politiker gegen laufende und geplante Privatisierungsverfahren. So sprach er sich ausdrücklich gegen die Privatisierung des Budapester Flughafens "Ferihegy" aus, den die Privatisierungsbehörde noch in diesem Jahr an private Eigentümer übergeben will. Außerdem will Orbán verhindern, daß "Kronjuwelen" wie die Ungarische Staatsbahn (MÁV) und die staatliche Post "verschachert" werden.

Sein Fidesz-Partei brachte im Parlament einen Gesetzentwurf ein, nach dem für die Privatisierung noch im Staatsbesitz befindlicher Firmen künftig eine Zweidrittel-Mehrheit erforderlich wäre. Das würde neben dem Fernbusunternehmen Volán auch Autobahnen und Krankenhäuser betreffen.

Das Pikante an der ganzen Sache: Der 42jährige Orbán ist kein Linksnationalist oder gar Kommunist. Seine rechtsliberal-konservative Fidesz-Partei hat enge Kontakte zur CSU und zur ÖVP, die im EU-Parlament in der Europäischen Volkspartei (EVP) vereint sind. Orbán ist seit 2002 sogar EVP-Vizepräsident. Die deutschsprachige Presse wertete diese Ankündigungen deshalb als "Frontalangriff gegen die Regierung", die derzeit von der Sozialistischen Partei (MSZP) und dem linksliberalen Bund Freier Demokraten (SZDSZ) gebildet wird.

Orbán hat gute Aussichten, seine Ankündigungen umsetzen zu können. I2006 finden in Ungarn Parlamentswahlen statt und der Fidesz liegt nach Umfragen stabil etwa fünf Prozent vor den regierenden Sozialisten. Es gehört zu Orbáns Markenzeichen, Dinge auszusprechen, die viele denken, aber nicht zu sagen wagen. Unvergessen ist die Szene, da er im Juni 1989 - noch als Student - bei der feierlichen Beisetzung von Imre Nagy (dem vom KP-Regime 1958 ermordeten Regierungschef während des Volksaufstands 1956) als erster offen den Abzug der sowjetischen Truppen forderte. Er fand ein ungeheures Echo und leitete so das Ende der sowjetischen Herrschaft über Ungarn maßgeblich mit ein.

Auch die Privatisierungspraxis ist ein Thema, das vielen Ungarn auf der Seele brennt. Nach Angaben der Wiener Zeitung haben sich bei Umfragen 72 Prozent der Befragten gegen weitere Privatisierungen ausgesprochen. Die Ablehnung bezieht sich aber nicht allein auf künftige Privatisierungen, sondern auch auf jene, die bereits erfolgt sind.

Korruptionsverdacht bei vielen Privatisierungen

Als Grund dafür werden die gar zu offensichtlichen Unregelmäßigkeiten angegeben. Besonders der Umstand, daß viele ehemalige Parteikader der kommunistischen Ära über undurchsichtige Vorgänge zu Reichtum und wirtschaftlicher Macht gelangt sind, erregt den Zorn vieler quer durch das politische Spektrum. Wie schockierend weit verbreitet die Korruption ist, zeigt eine neue Untersuchung der Stiftung Marktwirtschaft. Die mußte feststellen, daß nur etwa zehn Prozent aller öffentlichen Beschaffungen und Ausschreibungen in Ungarn frei von Unregelmäßigkeiten stattfinden. In neun von zehn Fällen gibt es rechtswidrige Absprachen, Bestechung oder Untreue.

Das läßt Rückschlüsse auf die Praxis der Privatisierung zu. Und es verleiht dem schnell erlangten Reichtum und modernen Parolen von public-private partnership einen ganz eigenen Beigeschmack. Die regierende MSZP ist auf diesem Gebiet besonders angreifbar, denn sie ist 1989 aus der kommunistischen Staatspartei MSZMP hervorgegangen. Aus ihren Reihen kommen viele Nutznießer des neuen Reichtums, dessen Entstehung Orbán genauer unter die Lupe nehmen will. Die Regierung hat denn auch auf Orbáns Rede scharf reagiert, wies alle Vorwürfe zurück und warnte davor, Eigentum in Frage zu stellen und so ausländische Investoren zu verunsichern. Selbst die US-Außenhandelskammer in Budapest hat sich irritiert gezeigt.

Einige Stimmen weisen darauf hin, daß Orbán bereits vor seiner ersten Amtszeit als Ministerpräsident (1998 bis 2002) eine privatisierungskritische Rhetorik angeschlagen habe. In seiner Regierungszeit sei die Privatisierung gestoppt oder jedenfalls verlangsamt worden. Die Überprüfung der vorher erfolgten Privatisierungen sei aber ausgeblieben. Unabhängig davon steht sie politisch auf der Tagesordnung, nicht nur in Ungarn.

Auch in der benachbarten Ukraine hat sich seit dem Amtsantritt von Präsident Viktor Juschtschenko die Regierung die Überprüfung der Privatisierungen und die Eindämmung der Macht der "Oligarchen" auf die Fahnen geschrieben. Das aber ist leichter gesagt als getan. Die bereits erwähnte Studie der Stiftung Marktwirtschaft sieht die Ursachen der Korruption in gesellschaftlichen und politischen Strukturen begründet. So haben die zuständigen Behörden und die Kontrollorgane weder die richtigen Strukturen noch das erforderliche Personal, um der Korruption Herr zu werden.

Für die substantielle Abschaffung der Mißstände ist nach Einschätzung vieler Fachleute ein Zeitraum von vierzig bis fünfzig Jahren zu veranschlagen. Die Aufarbeitung der Privatisierungen könnte schneller vorankommen - wenn Orbán als Premier sein Wort hält.


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