© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/05 30. September 2005

Harakiri am Nationalfeiertag
Beitritt: Die EU-Vollmitgliedschaft der Türkei würde Deutschland grundlegend verändern / Entscheidung über Verhandlungen am 3. Oktober
Paul Lattas

Mit der zu erwartenden Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei am 3. Oktober wird eine Entwicklung in Gang gesetzt, die nicht nur die Europäische Union, sondern auch Deutschland grundstürzend verändern wird. Die Chancen, daß in der deutschen Politik noch jemand die Notbremse zieht, sind seit der vorgezogenen Bundestagswahl weiter gesunken. Kritiker einer EU-Vollmitglied­schaft der Türkei verweisen oft auf die immensen finanziellen Belastungen, die damit auf Deutschland als größten Nettozahler zukommen. Die innenpolitischen und gesellschaftlichen Auswirkungen werden indes noch weit gravierender sein.

Spätestens 2020 droht der Wegfall aller Beschränkungen

Sichtbarste Folge wird die millionenfache weitere Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme sein. Selbst unter der Annahme großzügiger Fristen für den Abschluß der Verhandlungen und für Übergangslösungen bis zur vollen Freizügigkeit ist spätestens bis etwa 2020 mit dem Wegfall aller Beschränkungen zu rechnen. Es ist kaum zu erwarten, daß bis dahin das dramatische Wohlstandsgefälle zwischen der Türkei und Westeuropa trotz aller Transferleistungen wesentlich geringer geworden sein wird. Zudem wird, rechnet man das derzeitige Bevölkerungswachstum der Türkei von rund einer Million pro Jahr hoch, die Einwohnerzahl des Landes am Bosporus auf geschätzte 90 Millionen im Jahr 2020, 120 Millionen bis Mitte und 150 Millionen bis Ende des Jahrhunderts gewachsen sein. Jeder vierte Unionsbürger wäre dann Türke, was den Migrationsdruck weiter steigern wird.

Die Schätzungen darüber, was das für Deutschland bedeuten würde, gehen auseinander. Paul J. J. Welfens, Präsident des Europäischen Instituts für Internationale Wirtschaftsbeziehungen, rechnet mit fünf Millionen in drei Jahrzehnten, das Münchener Osteuropa-Institut mit 4,4 Millionen. Bei sinkender Zahl der deutschen Wohnbevölkerung und anhaltender Vermehrung der bereits in Deutschland lebenden Türken durch hohe Geburtenraten und Familiennachzug müßte sich Deutschland folglich auf einen deutlich zweistelligen türkischen Bevölkerungsanteil einstellen.

Dieser würde nicht nur optisch und zahlenmäßig das Straßenbild dominieren. Bei Arbeitslosen- und Sozialhilfequoten der türkischen Einwohnerschaft um dreißig bis vierzig Prozent - wenig spricht dafür, daß künftige vom deutschen Sozialsystem angelockte Einwanderer aus Anatolien erfolgreicher wären als die bisher hier ansässigen - würde ein Zustrom dieses Ausmaßes die deutschen Sozialkassen faktisch unfinanzierbar machen und bei schwindenden Umverteilungsmöglichkeiten ein unkontrollierbares Bürgerkriegspotential entstehen lassen.

Hinzu kommt, daß diese sozialrevolutionäre Reservearmee nicht nur zahlenmäßig und gesellschaftlich zu einem bestimmenden Faktor würde, sondern auch politisch. In der Debatte um die Auswirkungen einer türkischen EU-Vollmitgliedschaft wird gern übersehen, daß EU-Bürger im Land ihres Hauptwohnsitzes das volle kommunale Wahlrecht besitzen. Nicht nur die Neueinwanderer, die nach dem Fall eventueller Übergangsfristen und Zuzugsbeschränkungen kämen, sondern auch alle bereits hier ansässigen erwachsenen Türken könnten mit dem Tag des EU-Beitritts ihres Mutterlandes über die Besetzung von Bürgermeisterposten und die Zusammensetzung von Stadt- und Gemeindeparlamenten, Kreis- und Bezirkstagen mitbestimmen. Ein nach Millionen zählendes Wählerpotential würde mit einem Schlag die politische Bühne betreten.

Die Wunschvorstellung der rot-grünen Initiatoren des Beitrittsprojekts, die dankbaren türkischen Neuwähler möchten auch in Zukunft den deutschen Parteien ihrer Gönner treu bleiben, dürfte sich indes kaum erfüllen: Die Entstehung neuer türkisch-islamischer Parteien, die sozialen Protest mit religiösem Fundamentalismus koppeln, wäre unter diesen Umständen nur eine Frage der Zeit. Damit würde nicht nur das Szenario vom türkischen Stadtteilbürgermeister, der auf Verlangen der türkischen Mehrheit in der Bezirksverordnetenversammlung die Kopftuchpflicht in Ämtern und Behörden einführt und erst vom Bundesverfassungsgericht vorläufig gestoppt wird, ein ganzes Stück näher an die Realität gerückt.

Noch schwerer wiegt, daß nach allen bisherigen Erfahrungen die Orientierung der in Deutschland lebenden Türken am Mutterland und die Mobilisierbarkeit durch Politiker und Massenmedien die Bindung an das Gastland überwiegt. Der EU-"Partner" Türkei gewönne also einen signifikanten und schwerlich zu umgehenden direkten Einfluß auf politische Entscheidungen in Deutschland, der die bisherigen Formen der indirekten Einmischung noch bei weitem übertreffen würde.

Niemand kennt die Kosten des EU-Beitritts

Dieser Einfluß dürfte schnell kritisch werden, wenn es ums Geld geht. Niemand weiß, wieviel der türkische Beitritt wirklich kosten wird - die Prognosen sind in den letzten zwölf Monaten von 14 über 21 auf 28 Milliarden Euro jährlich hochgeschnellt. Für Deutschland liefe dies auf jährliche Mehrbelastungen von mindestens vier bis fünf Milliarden Euro hinaus. Die Erfahrung der Osterweiterung lehrt, daß die Realität in der Regel über den Prognosen liegt. Ohne Wohlstandseinbußen und Sonderopfer wird das in Zeiten knapper Kassen nicht zu finanzieren sein. Zwischen den unnachgiebigen Ansprüchen der zahlenstarken und einflußreichen türkischen Lobby im Land und radikalen einheimischen Protestbewegungen, die sich unter diesem Eindruck neu formieren könnten, wird der innere Frieden in Deutschland dann dauerhaft zerrieben werden. Mit der Forcierung des Türkei-Beitritts legt Deutschland sich eine Bombe unter den Stuhl und zündet die Lunte noch selbst an. Am Nationalfeiertag beginnt das nationale Harakiri.

Foto: Türkische Fahne vor der Berliner Siegessäule: Sozialer Sprengstoff für die Gesellschaft


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