© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/05 23. September 2005

Das Hohmann-Syndrom
von Arne Hoffmann

In den letzten Jahren hat in Deutschland die Debatte um den Antisemitismus eine neue Ebene erreicht. Erstmals wurde und wird nicht nur dem rechten und neurechten Rand, sondern auch Angehörigen des bürgerlichen Spektrums vorgeworfen, mehr oder weniger offen antisemitische Haltungen zu vertreten. Neu ist außerdem, daß die Angeschuldigten den Vorwurf nicht nur vehement bestreiten, sondern daß sie zahlreiche Unterstützung finden, oftmals auch Juden.

Ohne große Schwierigkeiten kann man mittlerweile eine Kluft ausmachen zwischen dem Zentralrat der Juden und der Meinungselite aus Politik und Medien einerseits und einer Mehrheit der Bevölkerung andererseits, wobei sich letztere vor allem im Internet, in Leserbriefen und bei anonymen Befragungen äußern konnte, weil ihr andere Mittel kaum zur Verfügung standen. Einer meinungsprägenden und -machenden Schicht, die sich selbst als moralische Instanz aufspielt und implizit oder explizit Menschen mit anderer Auffassung als unmoralisch diskreditiert, steht eine immense Zahl von Normalbürgern gegenüber, die diesen Anspruch als unbegründet oder sogar unstatthaft ablehnen.

Weil diese Entwicklung jung ist, liegt die Vermutung nahe, daß aktuelle Geschehnisse Einfluß nehmen. Tatsächlich sind die Debatten um Juden und Antisemitismus vor folgenden Hintergründen zu sehen: Die Militärpolitik Israels unter der Regierung Ariel Scharons wird sowohl in Deutschland als auch international und nicht zuletzt auch innerhalb Israels selbst wesentlich schärfer kritisiert als in den Jahren zuvor. Hier kommt es zu einem auffälligen Spagat. Während für manche Kritiker schon eine allzu enge Konnexion zwischen Israel und beispielsweise deutschen Juden als klarer Beleg für Antisemitismus gilt, tritt der Zentralrat der Juden in Deutschland immer wieder als ebenso erklärter Verteidiger Israels hervor. Dies wird im Verlauf dieses Buches noch verschiedentlich zu erörtern sein.

Die Kritik des jüdischen, US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Norman Finkelstein, ein Sohn von Holocaust-Überlebenden, an der gängigen Praxis der Reparationszahlungen und seine These, es gebe eine "Holocaust-Industrie", erregte hierzulande große Aufmerksamkeit. Finkelsteins Darstellung nach benutzten einflußreiche jüdische Organisationen in den USA die Leiden der NS-Opfer, um daraus auf unlautere Weise Profit für sich zu ziehen. Finkelstein erhebt zudem den Vorwurf, jüdische Eliten in den Vereinigten Staaten instrumentalisierten den Holocaust zur Stärkung des Staates Israel mit all seinen eklatanten Menschenrechtsverletzungen. Ebenso widerspricht er der gängigen Behauptung, der Massenmord an den Juden sei ein historisch einzigartiges und unvergleichbares Ereignis, und wendet sich gegen die als Variante der Kollektivschuldthese wahrgenommene Position Daniel Goldhagens, der zufolge die Deutschen in ihrer breiten Mehrheit Hitlers willige Vollstrecker gewesen seien. Finkelstein sieht eher die Gefahr, daß die Juden der Gegenwart ihrer eigenen kollektiven Verantwortung nicht nachkämen, den völkerrechtswidrigen Aggressionen Israels in den Arm zu fallen. Unabhängig davon, ob Finkelsteins Ansichten tragfähig sind, gelang es ihm damit als erstem, ein Klima der Angst zu durchbrechen, in dem es kaum jemand außerhalb des rechtsradikalen Spektrums gewagt hatte, das Thema Holocaust kontrovers zu diskutieren und Juden allzu scharf zu kritisieren.

Auch Martin Walser trug mit seiner umstrittenen Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 in der Frankfurter Paulskirche dazu bei, die ritualisierte, formelhafte Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen aufzubrechen. So heftig die Kontroverse auch war, zu der diese Rede führte: Walser trug damit doch dazu bei, einem in dieser Hinsicht neuen Denken und Sprechen Raum zu schaffen. (...)

Offensichtlich ist, daß es bisher keineswegs zu einem allgemeinen Diskurs- und Paradigmenwechsel gekommen ist. Statt dessen fanden und finden erste große Kämpfe um die Deutungshoheit zeitgeschichtlicher Vorgänge statt. Nun geht es beispielsweise bei den Auseinandersetzungen um das vom Bund der Vertriebenen (BdV) geplante "Zentrum gegen Vertreibungen" tatsächlich um eine Dokumentation des Leids der deutschen Heimatvertriebenen, und die federführende Betreiberin dieses Projekts, die BdV-Vorsitzende Erika Steinbach, hat die Konzeption längst auf das Thema "Vertreibungen" insgesamt ausgeweitet. Dennoch sieht sie sich mit dem Vorwurf eines latenten oder offenen Antisemitismus konfrontiert, und es ist in der Tat nicht schwierig, hinter einer solchen Verlagerung der Auseinandersetzung ein Kalkül aufzudecken.

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Wenn Joschka Fischer vom Holocaust als dem Gründungsmythos der Bundesrepublik spricht und darin einen alle politischen Bereiche mitprägenden Auftrag sieht, haben wir es mit einer Institution ersten Ranges zu tun.

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Diese Kämpfe um die Deutungshoheit zeitgeschichtlicher Vorgänge werden insbesondere dann auf das Feld des Antisemitismusvorwurfs gezogen, wenn mit einer bestimmten Heftigkeit Menschen jüdischen Glaubens kritisiert werden (ob sie nun zur israelischen Regierung gehören, im deutschen Zentralrat sitzen, im revolutionären Rußland aktiv waren oder medienpräsente Buchrezensenten sind). Das ursprüngliche Streitthema findet in der Mediendebatte dann gar keine Beachtung mehr; in den Vordergrund rückt statt dessen die Frage, ob der betreffende Kritiker nun ein Antisemit sei, wie stark und bedrohlich der Antisemitismus hierzulande geworden sei und was man dagegen unternehmen könne.

Der jüdische Autor Peter Sichrovsky ("Antifa-Komplex") äußerte sich zu diesem Mechanismus in der Zeitung JUNGE FREIHEIT bereits am 4. Dezember 1998, also Jahre vor den Skandalen um Möllemann, Hohmann und andere: "Für mich sind solche Kampagnen gleichzusetzen mit einem Fundamentalismus, der in einer Demokratie nichts zu suchen hat. In einer Demokratie nimmt man einen Dialog auf und versucht, seinem Gegner zu erklären, warum er nicht recht hat, warum er seine Meinung ändern sollte. Der Fundamentalist geht davon aus, daß es anständige und unanständige Menschen in einem Land gibt. Wenn die Unanständigen beseitigt oder mundtot gemacht worden sind, dann erst könne der Staat funktionieren, so die Fundamentalisten. Durch die Kriminalisierung, durch die Bezeichnung als 'Antisemit' und 'Verharmlosung des Holocausts' werfe ich jemand aus dem System des demokratischen Dialoges. Das ist das Prinzip des politischen und religiösen Fundamentalisten."

Warum aber gedeiht diese von Sichrovsky als fundamentalistisch gekennzeichnete Haltung quer durch die politische und journalistische Meinungselite unseres Landes so besonders gut? Eine Erklärung kann anhand von Ausführungen erfolgen, die der Soziologe Arnold Gehlen in seinem Werk "Urmensch und Spätkultur" zur Frage der Notwendigkeit von Institutionen macht. Gehlen zufolge wohnt jedem Menschen ein tief verankertes, nahezu instinktives Bedürfnis nach einer stabilen Umwelt inne. Da es zu mühsam ist, diese Stabilität immer wieder neu zu erkämpfen, kommt es zur Bildung von Institutionen, verläßlichen Einrichtungen also, die nicht hinterfragt werden dürfen und deshalb stabilisierend wirken. Beispiele sind Ehe und Familie, die Verwaltung, aber auch die weitgehende Übereinstimmung in der Einschätzung dessen, was richtig und was falsch sei, wie man erziehen müsse, was sich gehöre und was verboten sei.

Aufgabe solcher Institutionen ist es, die Gesellschaft durch Selektion von Verhaltensweisen zu stabilisieren. Zwangsläufig kommt es dabei zu einer Grenzziehung zwischen der in-group und der out-group: Ausgegrenzt werden all diejenigen, die sich nicht an die vorgegebenen Spielregeln halten. Dieser Mechanismus erfährt eine quasi-religiöse Aufladung durch Konzepte von Totems und Tabus. (...) Es mag gewöhnungsbedürftig klingen: Der Holocaust stellt für die bundesrepublikanische Gesellschaft ohne Zweifel ein Totem dar. Der Umgang mit dem Holocaust und seinen Überlebenden ist im Sinne einer überdeterminierten Institution, wie Gehlen sie beschreibt, ausgestaltet: Wer sich diesem Tabubereich nicht mit der ritualisierten Sprechweise nähert, die institutionell verbindlich vorgegeben zu sein scheint, erfährt die Verteidigung eines tabubewehrten Bezirks mit voller Wucht. Übertragen auf einen populär gewordenen Fall: "Ohne das Vokabular Gehlens zu strapazieren, läßt sich auch der 'Fall Hohmann' anhand (...) dieses Aspekts der Institutionenlehre interpretieren. Wenn Joschka Fischer und andere vom Holocaust als dem Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland sprechen und darin einen alle politischen Bereiche mitprägenden Auftrag sehen, haben wir es mit einer Institution ersten Ranges zu tun. Ihre stabilisierende Wirkung ist außerordentlich, ihre Überdeterminiertheit durch Geschichtsschreibung und Gedenkriten vollzogen, ihr numinoser Anspruch gesetzlich abgesichert. Wer wie Hohmann ans Tabu rührt - und dabei genügt es, den heiligen Bezirk als Unerwünschter zu betreten -, kann aus Gründen der Bestandssicherung mit der Institution mit Gnade nicht rechnen. Beinahe zynisch klingt es in diesem Zusammenhang, wenn Gehlen von der 'wohltätigen Fraglosigkeit' spricht, die durch die 'lnnenstabilisierung' einer Gesellschaft über starke Institutionen erreicht werde."

Wie mächtig ein tabuisierter Bereich geschützt ist, zeigt sich dann, wenn jemand für Verstöße gegen bestimmte Regeln bestraft wird, obwohl er vielleicht ganz im Sinne des Tabus sprach und nur eine eigenwillige Form der Annäherung und Beschreibung wählte. Von Martin Hohmann abgesehen dürfte das bekannteste Beispiel hierfür der ehemalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger (CDU) sein. Jenninger hatte am 9. November 1988 die Feierstunde des Parlaments aus Anlaß des fünfzigsten Jahrestages der Reichspogromnacht geleitet und war in seiner Gedenkrede bewußt vom üblichen biederen Ritus dieser Textsorte abgewichen, um sich eindringlicher mit dem Denken und Handeln der damaligen Täter auseinanderzusetzen. Das bedeutete notwendigerweise einen Konflikt mit der Parteirechten um Alfred Dregger, die statt dessen eine Zäsur ("Schlußstrich") unter diese ihnen leidige anhaltende Beschäftigung mit speziell dieser Epoche der deutschen Geschichte ziehen wollte.

Zum Skandal wurde Jenningers Rede indes von der politischen Linken gemacht: Jenninger hatte kaum mehr als zwei Minuten gesprochen, als die Grünen-Abgeordnete Jutta Osterle-Schwerin den schon vor der Rede vorbereiteten und von ihrem Inhalt unabhängigen Zwischenruf "Es ist ja doch alles gelogen!" tätigte. In der entstehenden Unruhe verließen mehrere Abgeordnete der Grünen sowie Teile der SPD und der FDP den Saal, was die Unaufmerksamkeit der anderen Zuhörer ebenso wie Jenningers Unsicherheit bei diesem heiklen Thema weiter verstärkte.

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Daß der Vorwurf des Antisemitismus schon durch bloßes Erheben zu einem Totschlag-Argument geronnen ist, sehen mittlerweile auch Vertreter der deutschen Meinungselite ein.

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Obwohl Jenningers Integrität auch vom politischen Gegner freimütig anerkannt wurde und er in der Anfangspassage seiner Rede die deutsche Schuld klar und eindeutig anerkannte, warf man ihm mangelndes Gespür für die Empfindsamkeit der Opfer vor und forderte seinen Rücktritt. Jenninger entschuldigte sich, falls er Gefühle verletzt haben sollte, und versuchte, seine Redeintentionen klarzustellen. Beides nützte ihm indes ebensowenig, wie es 15 Jahre später Politikern wie Möllemann und Hohmann mit ihren Entschuldigungen und Richtigstellungsversuchen glücken sollte. Und auch Jenninger kam schließlich dadurch zu Fall, daß ihm seine eigene Fraktion angesichts des im Raume stehenden Antisemitismus-Vorwurfs Unterstützung und Verteidigung verweigerte, um statt dessen Betroffenheit und Entsetzen zu zeigen. Eine eingehende Schilderung und Analyse weniger von Jenningers Rede selbst als vielmehr von ihrer Rezeption leistet der Sprach- und Kulturwissenschaftler Holger Siever in seiner Dissertation "Kommunikation und Verstehen. Der Fall Jenninger als Beispiel einer semiotischen Kommunikationsanalyse". (...)

Siever macht in seinen Darstellungen darauf aufmerksam, daß er einen Skandal nicht als Verletzung einer gesellschaftlichen Norm verstanden wissen möchte, sondern als die Etikettierung eines Ereignisses als nicht dieser Norm entsprechend. Diese Auffassung ist in zweierlei Hinsicht gut zu begründen: Zum einen ist unsere Gesellschaft mittlerweile höchst pluralistisch, was Werte und Normen angeht, so daß man nur noch sehr bedingt von einem allgemein verbindlichen Konsens sprechen kann. Skandale sind damit an bestimmte Gruppen und Kontexte gebunden. Zum anderen belegt ja gerade die Jenninger-Rede diese Gebundenheit vorzüglich: Obwohl sie zunächst als völlig mißraten zerpflückt wurde und zum politischen Tod Jenningers führte, konnte Ignatz Bubis als Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland später exakt dieselbe Rede noch einmal halten, ohne ihren Hintergrund zu erwähnen, und Anerkennung und Zustimmung für seine (also: Jenningers) Äußerungen ernten.

Nichtsdestoweniger berichtet die junge Journalistin Christiane Florin im Rheinischen Merkur vom 13. November 2003: "In Deutsch hatten wir das Abiturthema: Beiliegend finden Sie die Rede Philipp Jenningers zum 9. November 1988 und die Ansprache zum Weihnachts-Wunschkonzert der deutschen Wehrmacht. Arbeiten Sie antisemitische Klischees heraus." Die Institution Schule gibt hier bereits eine politische Deutung vor, die ein junger Mensch in einer lebensentscheidenden Prüfungsphase übernehmen muß, um überhaupt in die bestehende Gesellschaft aufgenommen zu werden. Bestimmte Gruppen (um mit Siever zu sprechen) und Institutionen (um auf Gehlen zu rekurrieren) setzen auf diese Weise durch, was als antisemitisch zu bewerten sei und was nicht.

Daß der Antisemitismus-Vorwurf schon durch bloßes Erheben zu einem Totschlag-Argument geronnen ist, sehen mittlerweile auch Vertreter der Meinungselite ein. Auffälligerweise ziehen im Zuge der in diesem Buch behandelten Debatten Kommentatoren der unterschiedlichsten politischen Couleur Analogien zum sogenannten McCarthyismus: einer Phase in den fünfziger Jahren der US-amerikanischen Geschichte, in der jeder, der als Kommunist wahrgenommen wurde (ob er es nun bekannte oder nicht), Opfer einer Hexenjagd wurde. (...)

Wie berechtigt sind die bis hierhin vorgeschlagenen Analogien? Haben wir es im Augenblick tatsächlich mit einer historischen Phase zu tun, in der schon Mißverständlichkeiten, Läßlichkeiten oder schlicht unerwünschte Meinungsäußerungen zu einem geforderten oder vollzogenen Ausstoß eines Einzelnen aus der Gemeinschaft führen - in der es aber gleichzeitig eine immer stärkere Gegenbewegung "von unten" dazu gibt, einen Appell an eine offene Debatte? Das sind zentrale Fragen, die bislang nur unzulänglich ergründet wurden. Im Herbst 2004 erschien zwar ein ganzer Schwung von Büchern zur neuen Antisemitismusdebatte. Während man vielen dieser Titel ihre Qualität nicht absprechen kann, bleiben sie doch mit der einzigen Ausnahme des bei Suhrkamp herausgegebenen Bandes "Neuer Antisemitismus?" sehr einseitig und einer geradezu manichäischen Einteilung der Welt in Gut und Böse verhaftet. Insbesondere die ernsthaften Argumente, aber auch die Verletzungen und Gefühle jener, die quer zur Meinung des medialen Mainstreams stehen, werden auch in diesen Schriften kontinuierlich übergangen und beiseite gewischt.

 

Arne Hoffmann ist Autor zahlreicher Bücher. Bei dem Beitrag hier handelt es sich um einen mit freundlicher Genehmigung des Verlages entnommenen Auszug aus seinem aktuellen Buch "Warum Hohmann geht und Friedman bleibt. Antisemistismusdebatten in Deutschland von Möllemann bis Walser" (Edition Antaios, Schnellroda 2005, 302 Seiten, broschiert, 24 Euro)


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