© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/05 23. September 2005

Paranoia auf Zelluloid
Karin Hartewig über das gigantische fotografische Erbe der DDR-Staatssicherheit
Ekkehard Schultz

Die Hinterlassenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) bestehen nicht nur aus 180 Kilometern Akten mit ihren unzähligen betippten Einzelseiten. Auch über 1,3 Millionen Fotopositive, Negative, Dias sowie etwa 3.750 Filme zählen heute zu jenem Teil des Erbes der DDR-Diktatur, über welches seit 15 Jahren die ehemalige Gauck- und heutige Birthler-Behörde die oberste Aufsicht hat. Mit diesem bislang immer noch nicht komplett gesichteten Material hat sich die freie Historikerin Karin Hartewig in ihrer Publikation "Das Auge der Partei - Fotografie und Staatssicherheit" auseinandergesetzt.

Der überwiegende Teil des Bilderberges diente der Beobachtung und Überwachung. Von den am Ende der DDR weit über 80.000 hauptamtlichen und nahezu 175.000 inoffiziellen Mitarbeitern (IMs) des MfS wurden die Bilder im Regelfall heimlich und ohne Kenntnis der beobachteten Personen aufgenommen. Es sind daher häufig Amateurfotos, die auch mit Hilfe von in Handtaschen eingearbeiteten Kleinbildkameras entstanden. Ein kleinerer Teil wurde im Zuge von Verhören und Verhaftungen direkt mit Kenntnis des Betroffenen aufgenommen. Gemeinsam war allen vom MfS in Auftrag gegebenen Überwachungsfotos jedoch die Absicht, "den abgebildeten Menschen als Kriminellen oder Außenseiter der sozialistischen Gesellschaft zu stigmatisieren".

War bis in die siebziger Jahre die Mehrzahl der mit Hilfe von Kameras überwachten Personen Berliner aus den Westsektoren sowie Bürger der Bundesrepublik bei ihrem Aufenthalt auf den Transitstrecken sowie bei Besuchen auf dem Territorium der DDR, so erhöhte sich seit dieser Zeit der Anteil von Personen aus Kreisen der tatsächlichen oder vermeintlichen "inneren Opposition" sprunghaft. Der dazu benötigte Aufwand erreichte immer größere Dimensionen: So hatte sich beispielsweise die Anzahl der Beobachtungsaufträge durch die Bezirksdienststellen des MfS von 1969 bis 1974 verdoppelt, in den Kreisdienststellen im gleichen Zeitraum mehr als verfünffacht.

Flächendeckend fotografisch überwacht wurden nicht nur die Grenzübergangsstellen zwischen Westdeutschland und der DDR sowie die grenznahen Bereiche, sondern auch die Transitautobahnen, Objekte wie die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin, die direkte Umgebung der Einrichtungen des MfS, aber auch zum Beispiel das Grab Robert Havemanns auf dem Grünheider Friedhof. Wer sich an solchen Orten bewegte, konnte nahezu sicher sein, fotografisch vom Mielke-Ministerium erfaßt zu werden.

Fotos erschienen dem MfS als "objektives Beweiskriterium" gegenüber "feindlich-negativen Personen". Ihnen wurde daher - meist zusammen mit ausführlichen Textdarstellungen - ein hoher innerer Wert zugeschrieben. Wie häufig es allerdings tatsächlich zum konkreten Einsatz von Fotomaterial zur Beweissicherung vor staatlichen Institutionen kam, ist kaum zu ermitteln. Wie die ausführlichen Beobachtungen von Personen durch IMs, die in Textform festgehalten wurden, erfolgte die Erhebung von Fotos meist nur begrenzt unter dem Gesichtspunkt des möglichen Einsatzes als vielmehr zur Anhäufung des "Wissensvorrates", den eine ausufernde, sich selbst bestätigende Bürokratie zur Bestätigung und Rechtfertigung ihrer Existenz benötigte.

Im Gegensatz zu den Beobachtungs- und Überwachungsaufnahmen wirkt die Mehrzahl des Bildervorrates, welcher die "Innensicht" des MfS zeigt, nahezu grotesk: Da gibt es Fotos mit MfS-Offizieren und -Mitarbeitern, die in Badehosen am kubanischen Strand spazieren, Generäle erholen sich mit ihren Familien bei Dampferfahrten oder tanzen Polonaise, Minister Mielke wird bei Traditionsveranstaltungen seines Hausfußballklubs BFC Dynamo und bei seinen Reden am Kalten Büfett fotografiert.

Interessant ist die Scheu des Ministeriums gegenüber der Öffentlichkeit seit den sechziger Jahren. Noch in den fünfziger Jahren setzte das MfS auf massive Aufklärungskampagnen in Form von Ausstellungen für ein breites Publikum, in denen mit Hilfe von massiv zugespitzter Propaganda über die vermeintlichen äußeren und inneren Feinde der DDR die Notwendigkeit der Arbeit des MfS gerechtfertigt werden sollte. Seit Mitte der sechziger Jahren - folglich mit dem Beginn der massiven Ausweitung der Mitarbeiterzahlen und der Aufgaben des MfS - blieb jegliche Öffentlichkeitsarbeit auf den engen Rahmen eines streng ausgewählten Publikums begrenzt. Für dieses Verhalten gibt es zahlreiche Theorien, doch die These, daß das Mielke-Ministerium einen konkreten Einblick in seine gegen die eigene Bevölkerung gerichtete Tätigkeit unter allen Umständen vermeiden wollte, klingt recht einleuchtend.

Insgesamt ist das Buch trotz seiner scheinbar sehr spezifischen Thematik einem breiten Leserkreis zu empfehlen. Die Autorin versteht es sehr gut, sachliche Schilderungen mit Spannung zu verknüpfen. Lediglich bei den Schlußfolgerungen, welche die Autorin aus der Analyse des Materials zieht, hätte man sich etwas mutigere und weitergehende Kritik an der Aufarbeitung des schlimmen Kapitels von Schnüffelei gegen das eigene Volk in Deutschland gewünscht.

Karin Hartewig: Das Auge der Partei. Fotografie und Staatssicherheit. Ch. Links Verlag, Berlin 2004, 272 Seiten, Abbildungen, broschiert, 19,90 Euro


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen