© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/05 23. September 2005

Ein Mirakel, nicht vollendet
Instinktsänger: Am Montag wäre der Tenor Fritz Wunderlich 75 Jahre alt geworden
Andreas Strittmatter

Zu Beginn des Kapitels über den Sänger Fritz Wunderlich stellt Jens Malte Fischer in seinem Buch "Große Stimmen" die Frage, ob man sich Wunderlich als sechzigjährigen Tenor vorstellen könne. Am kommenden Montag ließe sich diese Frage ergänzen - dann nämlich wäre der am 26. September 1930 in Kusel geborene Wunderlich 75 Jahre alt geworden, wäre er nicht bereits 1966 bei einem fatalen Treppensturz ums Leben gekommen, am 17. September, nur wenige Tage vor seinem 36. Geburtstag.

Tatsächlich gilt ein sechzig- oder gar fünfundsiebzigjähriger Wunderlich noch heute der Opernwelt als schlichtweg kaum vorstellbar, so sehr wurde die Erinnerung an den jungen Sänger nach dessen Tod vom Mythos einer frühen Vollendung umrankt. Für Wunderlich ward und wird gelegentlich noch immer in übertragener Weise in Anspruch genommen, was der Tenor oft in einer seiner Paraderollen - jener des Prinzen Tamino in der "Zauberflöte" - sang: "Dies Bildnis ist bezaubernd schön".

Und irgendwie, so will es der wunderliche Mythos, rettete der Tod dieses Bildnis davor, zu verblassen - ein schönes Beispiel dafür, wie die Wahrheit der Bühne sich manchmal der Realität des Lebens zu bemächtigen trachtet. Der letzte Laut der Sopranistin ist immer der schönste Moment, der letzte Seufzer des Tenors stets der am meisten ergreifende Augenblick: der Tod als Krönung des schlicht Schönen.

Das ist natürlich grober Unfug, denn als Wunderlich vermeintlich "früh vollendet" starb, hatte er sein Potential noch längst nicht voll entfaltet. Des Vokalisten Ruhm gründete anfangs vor allem auf einer schönen, lyrischen und höhensicheren Stimme mit gesundem Stimmsitz und warm-abgerundetem Klangbild, dem Sänger von der Natur gleichsam in die Wiege gelegt.

Die sehr gute Atemtechnik verdankte Wunderlich nicht zuletzt einer Ausbildung zum Hornisten in der Kuseler Kapelle. Als er mit zwanzig Jahren ein Studium an der Freiburger Musikhochschule aufnahm, stand daher nicht nur Unterricht bei der blinden Gesangspädagogin Margarete von Winterfeld auf dem Stundenplan; Wunderlich belegte auch einen Platz in der Waldhornklasse.

Der junge Sänger fiel nach Abschluß der Ausbildung rasch auf. Bereits 1955 hatte er einen Vertrag mit der Stuttgarter Staatsoper in der Tasche. Dort etablierte er sich nicht nur als der führende lyrische Tenor des Hauses - Wunderlich wurde auch bald, keineswegs unberechtigt, als größte Nachwuchshoffnung unter den deutschen Tenören gehandelt. Dennoch blieb er anfangs vor allem ein Instinktsänger, der sich stets darauf verlassen konnte, nicht allein die richtigen Töne, sondern auch den passenden Ton der Musik zu treffen, ohne sich allzusehr um Nuancen, geschweige denn um eine vertiefende geistige Durchdringung der musikalischen Aussage bemühen zu müssen.

Entsprechend irritiert reagierte beispielswegen John B. Steane, seines Zeichens damals Doyen der britischen Gesangskritik, auf das, was ihm da als tenorales Mirakel aus dem Wirtschaftswunderland angekündigt wurde.

Die naive Leichtigkeit, so ziemlich alles mit schönem Ton und gerne auch mit überrumpelnder Verve singen zu können, was ein lyrischer Tenor singen kann, ist nicht der nebensächlichste Grund für das breite Repertoire, welches sich Wunderlich in seiner gerade einmal zehn Jahre währenden Karriere erarbeitet hat. Es reicht von zu seiner Zeit noch relativ unbekannten geistlichen Werken des Barock bis zu den Passionen und Kantaten Bachs, schlägt von dort einen Bogen zu Händels Opernschaffen, schreitet weiter zu Mozarts Musiktheater und Haydns Oratorien. Italienisches von Verdi und Puccini lag - damals noch in deutscher Sprache gesungen - Wunderlich nicht minder in der Kehle als die deutsche Spieloper oder lyrisch ausgelegte Partien aus der Feder von Wagner und Strauss, vom Liedschaffen Beethovens, Schuberts und Schumanns ganz abgesehen. Einen letzten Punkt stellen unzählige Ausflüge zur Operette und in den Grenzbereich zur leichten Muse bis hin zum Schlager dar.

Nicht weniges ist auf Tonträgern erhalten, hierbei stammt aber das meiste aus einer Zeit, in der sich der Sänger auf einen Weg des Reifens begeben hatte, während sich ihm zugleich nicht nur die Türen zu bedeutenderen Opernhäusern wie der Bayerischen Staatsoper, sondern auch zu den Festspielen in Salzburg und Edinburgh öffneten. Als Wunderlich starb, stand der Termin für das Debüt an der Met bereits fest.

Aus dieser Phase hat der Tenor in der Tat einige großartige Einspielungen hinterlassen. Nur bedingt trifft dies vielleicht auf die vielgerühmte Version von Mahlers (im Jahr vor Wunderlichs Tod aufgenommenen) "Lied von der Erde" mit der Mezzosopranistin Christa Ludwig unter dem Dirigenten Otto Klemperer zu - eine Platte, die bei aller Perfektion eben doch nur unter den Bedingungen des Tonstudios und entsprechender manipulativer Möglichkeiten produziert werden konnte.

Aber: Gerade diese Einspielung steht par excellence für ein Versprechen, das Wunderlich durch seinen frühen Tod eben nicht mehr einlösen konnte. Selten hat sich der Tenor so sehr der Musik, ihren Stimmungen und ihrer Tiefendramaturgie ausgesetzt wie bei diesem Wagnis. Dies gilt auch für seine Interpretation des Liedzyklus "Dichterliebe", bei dem sich die genuine "Natürlichkeit" des Sängers mit einer großen Einfühlung in Schumanns emotionalen Abgrund paart.

Nicht minder besteht Grund zur Annahme, daß sich Wunderlich, dessen Stimme ohnehin auch Partien meistern konnte, die aus dem lyrischen Rahmen sprangen, auch neue Rollen erobert hätte. Vielleicht wäre sein Parsifal eines Tages wunderbar gewesen, doch gewiß nicht "früh vollendet".

Foto: Fritz Wunderlich (1930-1966): Vom Mythos umrankt

Werner Pfister: Fritz Wunderlich. Biographie. Ausgabe mit CD, Schott, Mainz, 460 Seiten, gebunden, 29,95 Euro


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