© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/05 23. September 2005

Es fliegen wieder Molotow-Cocktails
Nordirland: Pro-britische Protestanten und irisch-katholische Nationalisten bleiben unversöhnlich / Kritik an britischer Regierung
Sigrun Saunderson

Gerade noch schien Nordirland sicher in der Einbahnstraße zum endgültigen Frieden angelangt zu sein. Denn die 1916 gegründete Irisch-Republikanische Armee (IRA) hatte am 28. Juli 2005 das offizielle Ende ihres "bewaffneten Kampfes" verkündet. Die IRA wollte bis dahin mit paramilitärisch-terroristischer Gewalt erreichen, daß jene sechs Grafschaften in der Provinz Ulster, die 1921 - bei der Entlassung Irlands in die Unabhängigkeit - beim Vereinigten Königreich verblieben, Teil der Republik Irland werden. Zudem sind Großbritannien wie Irland seit 1973 Mitglied von EWG bzw. EU, wo Grenzen und Nationalitäten eine immer unbedeutendere Rolle spielen sollen.

Doch nun fliegen wieder "Molotow-Cocktails", stehen Straßen in Flammen, prügeln sich die Leute mit der Polizei. Nur sind es diesmal nicht irisch-katholische Nationalisten, die ihrem Unmut Luft machen. Seit dem 10. September laufen die pro-britischen protestantischen "Loyalisten" in den Arbeiterbezirken der nordirischen Städte Amok.

Die verwendeten Waffen und der Ablauf des brutalen Aufstandes, in dem bisher über 60 Polizisten verletzt wurden, legen nahe, daß loyalistische Terroreinheiten die Krawalle vorbereitet und orchestriert haben. Doch die Terrorgruppen scheinen nicht allein für die Gewaltakte verantwortlich zu sein. Der auf Respektabilität bedachte probritisch-protestantische Oranier-Orden wird beschuldigt, die Aufstände gutgeheißen, wenn nicht sogar angezettelt zu haben. Robert Saulters, Vorsitzender des Ordens, lehnt aber jegliche Verantwortung ab. Statt dessen nennt er die Ausschreitungen einen "Schrei der Verzweiflung" der protestantischen Arbeiterklasse, die als zweitklassige Bürger leben müßten, während die Katholiken alle Vergünstigungen bekämen.

"Diese Unzufriedenheit der protestantischen Bevölkerung brodelte schon längst im Untergrund und wartete nur auf einen Ausbruch", tönt es einheitlich aus unionistischen Rängen. Anlaß für diesen Ausbruch war eine Parade des Oranier-Ordens, die gemäß Verordnung der Marschkommission von der Polizei am Durchzug durch ein katholisches Viertel gehindert wurde.

Doch begonnen hatte der Unmut der Unionisten schon mit dem Abschluß des Karfreitagsabkommens im Jahr 1998, das eine Gewaltenteilung zwischen Protestanten (etwa 20 Prozent presbyterianisch, 15 Prozent anglikanisch, drei Prozent Methodisten) und Katholiken (über 40 Prozent der Bevölkerung) in einer gewählten Lokalregierung vorsah. Nun sollten also auch republikanische Parteien, darunter die IRA-nahe Partei Sinn Féin, an der Regierung teilhaben.

Mit dem 79jährigen Presbyterianer-Pfarrer Ian Richard Kyle Paisley von der extrem pro-britischen Democratic Unionist Party (DUP) als Aufwiegler wandelte sich die Atmosphäre in Nordirland in den folgenden Jahren von einer beinahe wohlwollenden Kompromißbereitschaft zwischen Katholiken und Protestanten zur jetzigen unversöhnlichen Verteidigungshaltung eines Großteils der Protestanten.

Während Katholiken - und auch die internationale Öffentlichkeit - im Karfreitagsabkommen die längst fällige Gleichstellung der Katholiken mit den Protestanten sehen, fühlen sich protestantische Loyalisten vom Friedensprozeß betrogen. Die zahlreichen Zugeständnisse an die Republikaner seien Beweis dafür, daß die IRA mit ihrer bestialischen Terrorkampagne den Katholiken Vorteile verschafft habe. "Gewalt macht sich anscheinend bezahlt. Das können wir auch", ist nun die Antwort der Protestanten.

Mit der Kampagne "Love Ulster" ( www.loveulster.com ) riefen Ende August verärgerte Loyalisten, darunter Mitglieder der Terrororganisationen sowie Saulters als Großmeister des Oranier-Ordens alle Protestanten der nordirischen Provinz dazu auf, eine einheitliche Front gegen die "schrittweise Machtübernahme" durch die Katholiken zu bilden. Die großangelegte Kampagne schürt Mißtrauen gegenüber der britischen Regierung, die gemeinsam mit der irischen Regierung Katholiken mit Zugeständnissen beschwichtige und dabei die protestantische Kultur ausradiere - mit dem Endziel des so gefürchteten vereinten Irlands. "Werden sie erst zufrieden sein, wenn sie alle Protestanten ins Meer gestoßen haben?"

Anstelle einer allgemeinen Erleichterung im Anschluß an die Waffenniederlegung der IRA wurde so innerhalb weniger Wochen eine bedrohliche Krisenstimmung heraufbeschworen. Die Union sei in Gefahr, die britischen Regierungsbeamten seien Verräter.

Die Gewinner dieser ungeschickten Kampagne sind die Republikaner. Waren IRA und ihr politischer Arm Sinn Féin Anfang des Jahres noch in einer aussichtslosen Lage, als sich nach dem Jahrhundert-Bankraub und dem Mord an dem Katholiken Robert McCartney (JF 06/05) die ganze Welt gegen sie stellte, so stehen sie nun als die kompromißbereiten Friedensstifter da. Geflissentlich halten sie Wort und lösen schon diese Woche ihre Waffenarsenale auf.

Die Loyalisten hingegen stoßen auf verständnisloses Kopfschütteln. Laut veröffentlichten Statistiken genießen sie immer noch Vorteile den Katholiken gegenüber, beschweren sich jedoch über Benachteiligung. Sie beklagen sich über ärmliche Lebensbedingungen und Arbeitslosigkeit in ihren Vierteln und stecken in blinder Raserei selbst die eigenen Geschäfte und Betriebe in Brand. Sie bestehen auf einer Union mit Großbritannien und schießen dann selbst auf die britische Armee und Polizei.

Die protestantische Bevölkerung, die bei den letzten Wahlen eine lange ungekannte Einigkeit bewiesen hatte, scheint sich angesichts der Gewalt wieder in zwei Lager zu spalten: Diejenigen, die für die Erhaltung der protestantischen Kultur und gegen das Karfreitagsabkommen auf die Straße gehen und dafür sogar schwangere Frauen aus ihrem Auto prügeln. Und diejenigen, die entsetzt zuschauen und mit "diesem Loyalismus nichts mehr zu tun" haben wollen.

Foto: Protestantische "Loyalisten" attackieren britische Polizei: "Gewalt macht sich anscheinend bezahlt"


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