© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/05 16. September 2005

Der Vertrauensvorschuß ist längst verspielt
Identitätssuche und Verlustängste: In Mitteldeutschland beeinflussen nicht nur wirtschaftliche und soziale Faktoren das Wahlverhalten
Ekkehard Schultz

Könnte den Mitteldeutschen erneut - jenseits der Nachwahl in Dresden - die Rolle des "Züngleins an der Waage" zukommen? Politiker aller Couleur sind gut beraten, vor den Bundestagswahlen ein besonderes Augenmerk auf den Osten zu richten: Zum einen ist die Anzahl von Parteimitgliedern dort prozentual weit niedriger als in Westdeutschland, eine Stammwählerschaft - sieht man von der PDS ab - praktisch nicht existent. Durch die hohe Rate an Wechselwählern, die im Regelfall erst kurz vor dem Wahltermin ihre Entscheidung treffen, werden Voraussagen schwieriger. Hinzu kommt ein stärkeres Protestwahlverhalten aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen und auch gesellschaftlichen Situation. In welche Richtung das Pendel des Protestes jedoch ausschlägt, ist häufig nicht vorauszusehen.

Nun gibt es verschiedene Anzeichen dafür, daß die mitteldeutschen Wähler den 18. September nicht nur für die Union zu einer Zitterpartie gestalten könnten. Denn der Protest gegen die Politik der rot-grünen Regierungskoalition wird dort nach Meinung der Demoskopen nur zu einem kleinen Teil der CDU, vor allem aber der aus PDS und WASG gebildeten Linkspartei zugute kommen. Dazu dürften auch die massiven Hartz-IV-Proteste beitragen.

Zweifellos werden die höhere Quote von Betroffenen der Sozialreformen, die im Durchschnitt gegenüber dem Westen doppelt so hohe Arbeitslosenrate oder der weiterhin bestehende Lohnabstand das Wahlverhalten der Mitteldeutschen beeinflussen. Dennoch erfassen diese Faktoren die reale Situation nur oberflächlich. Denn für die heute vielerorts anzutreffende Stimmung in Mitteldeutschland (im Sprachgebrauch vereinfachend als "Jammer-Ossi" persifliert) bietet die komplizierte Lebenssituation einzelner Bevölkerungsgruppen keine ausreichende Erklärung. Es sind vielmehr in der Regel langfristig wirkende Mechanismen, die als kollektive Kränkung verstanden werden.

Der Unterschied zu 1990 könnte nicht größer sein

Blickt man auf die Veränderungen bei der Einschätzung der Zukunftsperspektiven bei der mittleren, aber auch der jüngeren Generation, so könnte der Unterschied zwischen 1990 und 2005 kaum größer sein. Standen im Jahr der staatlichen Vereinigung für die meisten Mitteldeutschen die neuen Chancen im Vordergrund, sind es fünfzehn Jahre später die Risiken (Sorge um den Arbeitsplatz, die familiäre Zukunft, Rentenerwartung).

Möchten die großen Hoffnungen, die Zukunft nach vielen Jahrzehnten endlich wieder in die eigenen Hände nehmen zu können, auch mitunter wenig realistisch gewesen sein und weitaus überzogene Erwartungen eingeschlossen haben - ihr Kerngehalt war keineswegs "naiv" und "blauäugig", wie es heute in Publikationen von Vereinigungsskeptikern häufiger aufscheint.

Das Gegenteil ist richtig: Nur die rauschhafte Begeisterung konnte angesichts der gigantischen Aufgaben - betrachtet man die Hinterlassenschaften des SED-Staates - den notwendigen Vertrauensvorschuß für den Wiederaufbau begründen. Dieser Vorschuß stellte die entscheidende Voraussetzung für die Lösung der Probleme dar, die aber längst nicht nur Mitteldeutschland betrafen, sondern mit dem Weg zur Wiedervereinigung zu gesamtdeutschen Herausforderungen wurden. Er war als Voraussetzung für die Auslösung eines Prozesses, der nicht nur Reformen, sondern auch elementare Verwerfungen bedingte, praktisch unverzichtbar.

Doch schon innerhalb weniger Wochen wurde ein erheblicher Teil dieses Vertrauens bedenkenlos verspielt. Denn die Notwendigkeit, auch das System in Westdeutschland der neuen Situation anzupassen und gleichzeitig mit den Veränderungen im Osten zu transformieren und zu stärken, rückte bald in den Hintergrund und wurde wenig später vollkommen verdrängt. Wer Veränderungen im Westen anmahnte, fand sich schnell in der Rolle des ungeliebten Rufers in der Wüste wieder. Die Vereinigung wurde in Westdeutschland als Angleichung des Ostens an den Westen, jedoch nicht als Chance zum Neuanfang gesehen.

Die damals in Westdeutschland vorherrschende und von Politikern beförderte Ansicht, daß die überwiegende Masse der dortigen Bevölkerung auch nach einer Wiedervereinigung mit Mitteldeutschland keine Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Umstände zu erwarten habe, erwies sich als einer der größten innenpolitischen Irrtümer dieser Jahre. Einem echten gesamtdeutschen Aufbruch war damit bereits entgegengewirkt worden, bevor er überhaupt beginnen konnte.

Die Wiedervereinigung vermochte in weiten Teilen Westdeutschlands keinerlei echte Emotionen auszulösen. Sie blieb bestenfalls als bloßer Verwaltungsakt zur Einlösung eines alten Versprechens in den Köpfen haften, von dem sich große Teile der politischen Klasse ohnehin längst verabschiedet hatten. Ihre Konsequenzen waren bald in Form eines Solidaritätszuschlages auf den Gehaltsabrechnungen zu spüren - ohne wirkliche emotionale Anbindung hatte dies für viele Betroffene den Charakter eines Geschäftes, und zwar eines schlechten. Der Grundstein für unwürdige Diskussionen um die Kosten für die einen zum Nutzen der anderen war gelegt.

Die Suche nach einem gesamtdeutschen Identifikationsobjekt, welches mit dem Wiederaufbau verbunden werden konnte, mußte ergebnislos bleiben, basierte doch die westdeutsche Identität seit den fünfziger Jahren kaum noch auf Empathie mit den Deutschen außerhalb der Landesgrenzen, sondern auf Besitz und Wohlstand. Die D-Mark trat an die Stelle des fehlenden nationalen Zeichens. Die Währungsunion markierte das Datum der eigentlichen "Vereinigung" in den Köpfen der Bürger.

Kritiker des Wechselkurses hatten einerseits recht, daß Datum und Modalitäten der Währungsunion aktuellen politischen Stimmungen Rechnung trugen. Allerdings wurden bei der einseitigen ökonomischen Kritik die politischen Aspekte meist verdrängt. Erst mit der D-Mark war für die meisten Mitteldeutschen die Gefahr einer Revision der Abläufe der letzten Monate gebannt.

Die Währungsunion wird selbst heute noch - Jahre nach der Einführung der Kunstwährung Euro - als unverdientes "Geschenk" für die Mitteldeutschen verkauft. Ökonomischer Hauptgewinner wurde jedoch die westdeutsche Konsumgüterindustrie, die aufgrund des großen "Nachholbedarfs" der mitteldeutschen Bevölkerung einen zweiten Frühling erlebte.

Auch nach der staatlichen Vereinigung wurde mit der Betonung der "enormen Vereinigungskosten" viel Porzellan zerschlagen. Die Umstrukturierungen in Mitteldeutschland wurden als Problematik dieser Länder abgetan, obwohl gerade die Angleichung Lücken im westlichen System offenbarte, die dringend der Reform bedurft hätten.

Um so größer war die Enttäuschung darüber, daß sich die Spitzen der westdeutschen Politik gegenüber jeglichem Engagement der Mitteldeutschen teils abwartend, teils auch ablehnend verhielten. Wo sich eigenständige Strukturen, zum Beispiel im Parteiensystem oder in der Presselandschaft, zu entwickeln begannen, wurde diesen nur ein kurzes Eigenleben gegönnt, bis sie sich in die bestehenden westdeutschen Systeme einpassen mußten.

Die PDS konnte sich als einzige Alternative etablieren

Statt der unverzüglichen Herausbildung einer neuen mitteldeutschen Elite wurden wesentliche staatliche Posten mit zum Teil nicht sonderlich qualifizierten Westdeutschen besetzt. Diese setzten bürokratische Richtlinien und Hürden, die den Elan gerade des neuen Mittelstandes erheblich bremsten. Weit schwerwiegender war jedoch, daß unter ihrer Ägide einstige SED- und MfS-Kader oftmals wegen ihrer vermeintlich besseren "Qualifikation" Möglichkeiten zum Wiedereinstieg im Staatsapparat erhielten. Während sich die Arbeitslosigkeit in Mitteldeutschland zum Massenphänomen entwickelte, hatten viele alte Kader - mit Ausnahme der ersten Garnitur - die Chance, wichtige Positionen zu erringen. So mußten sich zahlreiche Opfer der kommunistischen Diktatur mit den Mitläufern ihrer einstigen Peiniger erneut auseinandersetzen.

Zugleich konnte sich die in PDS umbenannte einstige kommunistische Einheitspartei - aufgrund ihrer Ausnahmestellung hinsichtlich Finanzausstattung und Organisationsgrad - als alleinige Alternative zu den bundesdeutschen Institutionen etablieren. In Westdeutschland war die Politik zunächst blauäugig davon ausgegangen, daß die SED-Nachfolger ohnehin desavouiert und damit chancenlos seien. Damit wurde die Möglichkeit für ein Verbot der kommunistischen Kaderpartei versäumt - zumal sie der linke Flügel der SPD schnell als potentiellen Partner ansah. Bereits 1994 durfte die PDS im Landtag von Sachsen-Anhalt eine sozialdemokratisch geführte Regierung "tolerieren". Auch damit wurden die Gefühle vieler Bürger, die an den Umwälzungen 1989/90 direkt oder emotional teilgenommen hatten, gröblichst verletzt.

Ein wesentliches Problem für die Mitteldeutschen bestand in den frühen neunziger Jahren darin, daß sie eine Einstellung zu ihrem Deutschsein konserviert hatten, die bei der politischen Klasse Westdeutschlands längst nicht mehr Konsens war. Äußerungen von Lokalpolitikern zu Fragen des Nationalbewußtseins, aber auch die längst notwendig gewordene Erörterung und Veränderung des Asyl- und Ausländerrechtes dienten als Anlaß, daraus eine vermeintliche Bedrohung der demokratischen Ordnung "von rechts" zu konstruieren. Anstatt Diskussionen über die Vereinbarkeit zwischen west- und mitteldeutschen Vorstellungen als notwendigen und erwünschten Beitrag zum inneren Vereinigungsprozeß zuzulassen, wurden diesbezügliche Debatten von Anfang an unterbunden.

So werden die realen ökonomischen Rahmenbedingungen am 18. September eine geringere Rolle spielen als Identitätsprobleme und Verlustängste, von denen in erster Linie die PDS profitieren wird. Die Stärke der Linkspartei ist primär nicht das Resultat ihrer demagogischen Fähigkeiten, sondern das Ergebnis fahrlässig vergebener Chancen des innerdeutschen Einigungsprozesses, die bis heute nicht korrigiert wurden und die vor allem die Unionsparteien zu verantworten haben.

Daß ausgerechnet Angela Merkel jetzt einen "Neuanfang wie nach 1945" - wenn auch nur mit Bezug auf die heutigen Sozialsysteme - fordert, mutet dabei nahezu tragikomisch an. Denn schon der mißglückte "Neuanfang von 1990" trug maßgeblich ihre Handschrift.

Foto: Wahlwerbung an einer stillgelegten Gleisanlage in Sachsen-Anhalt: Nicht mehr die Chancen, sondern die Risiken prägen die Stimmung


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen