© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/05 16. September 2005

BRIEF AUS BRÜSSEL
Beste Lösung für die EU und die Türkei
Andreas Mölzer

Die türkische Regierung hat weiterhin treue Verbündete in der EU. Erweiterungskommissar Olli Rehn erklärte zuletzt, daß das Ziel der Verhandlungen mit Ankara der Beitritt zur EU sein müsse. Er sei optimistisch, daß die Verhandlungen am 3. Oktober beginnen werden, sollte die Türkei alle Bedingungen erfüllen.

Der britische Außenminister und EU-Ratschef Jack Straw verstieg sich sogar darauf zu behaupten, beim Türkeibeitritt gehe es um ein "Europa, das seine Grenzen ausweitet, um eine breitere Gemeinschaft stabiler und blühender Demokratien zu errichten, oder ein Europa, das seinen Nachbarn die Türe verschließt". Daß die EU-Bürger die Türkei nicht im eigenen Haus haben wollen, kümmert diese Erweiterungs-Phantasten nicht.

Im Gegensatz zum Türkei-Lobbying zeigt Brüssel Kroatien weiterhin die kalte Schulter: Verhandlungen mit Zagreb werde es erst dann geben, wenn Kroatien voll mit dem Haager Kriegsverbrechertribunal zusammenarbeite, meinte Rehn. Daß sich der als Kriegsverbrecher gesuchte General Ante Gotovina wahrscheinlich längst nicht mehr in Kroatien aufhält, spielt für die EU keine Rolle.

Der Tag der Deutschen Einheit 2005 wird nicht nur für die Türken, sondern vor allem für die EU zur Stunde der Wahrheit werden. Dann wird sich zeigen, ob das Gerede der EU-Nomenklatura über die "europäischen Werte", über Demokratie und Menschenrechte, wirklich ernst gemeint oder ob es nur heiße Luft ist. Tatsächlich läßt sich die Liste der Probleme der Türkei unbegrenzt fortsetzen: schwere Menschenrechtsverstöße, die beharrliche Weigerung, das EU-Mitglied Zypern anzuerkennen, die fehlenden Rechte der Kurden, die Diskriminierung der Frauen, die Leugnung des Völkermords an den Armeniern, die schleichende Islamisierung des Landes, die beharrliche Diskriminierung der christlichen Minderheiten und die weiterhin hohen Inflationsraten. Daß sich die Türkei bei all diesen Schwierigkeiten in den nächsten zehn bis 15 Jahren in ein "anderes Land" verwandeln wird, wie es die Erweiterungsfans immer wieder behaupten, darf bezweifelt werden.

Vielmehr ist davon auszugehen, daß das politische Klima in der Türkei schon bald rauher werden könnte, als es vielen lieb ist. Dann nämlich, wenn nicht nur in den irakischen, sondern auch in den türkischen Kurdengebieten die Rufe nach Autonomie und Unabhängigkeit immer lauter werden. Man darf jetzt schon gespannt sein, wie das Militär, der Hüter der kemalistischen Tradition, auf kurdische Forderungen nach Selbstverwaltung reagieren wird. In diesem Fall ist es durchaus wahrscheinlich, daß das türkische Militär, das nach wie vor eine außerordentlich wichtige Rolle innehat, aus Sorge um die Einheit des Staates den ohnehin bescheidenen Bemühungen um Demokratie und Menschenrechte schnell den Garaus machen wird.

Will Brüssel in der Frage des Türkeibeitritts seine Glaubwürdigkeit bewahren, wird es härtere Forderungen an Ankara stellen müssen. Daß dann der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan seine "Drohung" wahrmachen und das Beitrittsgesuch seines Landes zurückziehen könnte, wäre weder für Brüssel noch für Ankara eine Tragödie. Vielmehr eröffnete ein solcher Schritt die große Chance, andere Formen der Zusammenarbeit ins Auge zu fassen - zum Wohl für beide Seiten.

 

Andreas Mölzer ist Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung "Zur Zeit" und seit 2004 FPÖ-Europaabgeordneter.


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