© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/05 09. September 2005

Im Zweifel SPD
Wahlkampf: Die Sozialdemokraten umwerben türkischstämmige Wähler
Curd-Torsten Weick

Im April 1994 verkündete der damalige türkische Staatspräsident Süleyman Demirel seine Sicht der Dinge. Er selbst sei es gewesen, der in den sechziger und siebziger Jahren für die Ausreise von bis zu siebzig Prozent der etwa drei Millionen Türken nach Europa verantwortlich war. Begründung: Er habe "eine Lobby in Europa" gewollt.

Mit der zunehmenden Einbürgerung dieser "Lobby" - 1994 gab es 45.000 eingebürgerte Türken, im Jahr 2004 lag deren Zahl bereits bei 450.000 - wurde sie auch für die bundesdeutschen Parteien interessant. Allen voran für die SPD. Kurz vor der Bundeswahl 1998 appellierte dann auch der Chef der sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei (CHP) in einem Brief an die rund 200.000 türkischstämmigen Wähler in Deutschland, ihre Stimme der SPD und Gerhard Schröder zu geben. "Ich rufe dazu auf, daß die in Deutschland lebenden Türken um ihrer eigenen Zukunft willen einen Beitrag zu der historischen Veränderung in Europa leistet."

Schröders Gegenspieler, Bundeskanzler Helmut Kohl, bekam keinerlei Unterstützung von seinen türkischen "Schwesterparteien". Im Gegenteil, die Vorsitzenden der beiden konservativen Parteien DYP und ANAP, Tansu Ciller und Ministerpräsident Mesut Yilmaz, fühlten sich von dem Pfälzer in der Europafrage hintergangen. Kohl habe sich auf einer Sitzung der Chefs der Europäischen Volkspartei gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei ausgesprochen, hieß es. Und so erklärte der fließend Deutsch sprechende Yilmaz: "Kohl ist unser neuer Feind." Schröder gewann die Wahl, und die eingebürgerten Türken hatten ihren guten Anteil daran. Eine im August 1998 vom Essener Zentrum für Türkeistudien veröffentlichte Befragung ergab folgendes Bild: 70,4 Prozent der Eingebürgerten favorisierten die SPD, 16,9 Prozent die Grünen, 7,6 Prozent die Union, 3,2 die PDS, 1,4 die FDP und 0,4 Prozent NPD und Republikaner.

Hartz IV ist an Neubürgern nicht vorbeigegangen

Vier Jahre später sah es ähnlich aus: 60 Prozent der türkischstämmigen Wähler bekundeten ihre Präferenzen für die SPD, 17 Prozent für die Grünen. Die Union kam auf zwölf, die FDP auf fünf Prozentpunkte. Am Ende gewann die rot-grüne Koalition die Bundestagswahl 2002 mit einem hauchdünnen Vorsprung von wenigen tausend Stimmen und hielt dies ihrer "Neuen Inländer"-Politik und der Haltung in der Türkei-Frage zugute.

Kurz vor der Bundestagswahl am 18. September will die Sozialdemokratie nun ihre zumeist aus dem Arbeitermilieu stammende Wählerklientel mit türkischen Wurzeln wieder für sich begeistern. Die Initiative "Neue Inländer für Schröder" wird wiederaufgelegt. Kampagnen in den Großstädten laufen, und für die nötige partnerschaftliche Hilfe aus der Türkei ist ebenfalls gesorgt.

So kam der neue Hoffnungsträger der türkischen Sozialdemokratie, der Bürgermeister des Istanbuler Stadtbezirks Sisli Mustafa Sarigül (CHP), im Beisein des SPD-Bundesvorsitzenden Franz Müntefering Ende August zur Auftaktveranstaltung der Kampagne "Neue Inländer. Gemeinsam für ein soziales Deutschland". Er verstehe, so Sarigül, die SPD auf der einen Seite als die Partei der Freundschaft und Partnerschaft zwischen Deutschland und der Türkei. Andererseits aber auch als die Partei, die das friedliche und gleichberechtigte Zusammenleben von Deutschen und Türken in Deutschland garantiere.

Doch das Jahr 2005 ist nicht mehr das Jahr 1998. Hartz IV ist auch an den eingebürgerten Türken nicht vorbeigegangen. Schon sprechen viele davon, daß ein Großteil der frustrierten Eingebürgerten zur Linkspartei.PDS wechseln könnte. Der Schröder-Nimbus wäre dahin. Während nun die SPD noch einmal versucht, mit ihrer türkeifreundlichen Europapolitik zu punkten, rangieren CDU und CSU bei den eingebürgerten Türken unter ferner liefen. Ihre Rede von der "privilegierten Partnerschaft" wird von vielen als Affront gewertet. Überhaupt scheint eine Partei, die ein C für "christlich" im Namen trägt, für die Mehrheit der Moslems immer noch unwählbar.


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