© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/05 02. September 2005

Selbstgespräche mit Gott
Glauben und Beten: Ulrich Seidls Dokumentarfilm "Jesus, Du weißt"
Martin Lichtmess

Der Österreicher Ulrich Seidl, dessen bereits 2003 entstandener Dokumentarfilm "Jesus, Du weißt" nun auch hierzulande in den Kinos zu sehen ist, ist einer der wenigen großen Stilisten des deutschsprachigen Films. Das gilt trotz des hohen "Schmuddelfaktors" seiner Arbeiten, der ihn bei Linksintellektuellen so beliebt macht. Wiener Proleten, biedere Kleinbürger, Unterschichtgestalten, Exzentriker, Figuren wie aus den Cartoons von Manfred Deix bevölkern seine Dokumentarfilme, die sensiblen Gemütern wie wahre Freak-Shows erscheinen. Spätestens jedoch seit Seidls furiosem Spielfilmdebüt "Hundstage" (2001), einer gewalttätigen Szenenfolge aus der niederösterreichischen Provinz, kann der 1952 geborene Regisseur getrost als der vielleicht bedeutendste Chronist der zeitgenössischen Dekadenz gelten. Seine Themen findet er mit der traumwandlerischen Sicherheit eines Besessenen und erschafft mit ihnen seinen eigenen, unverwechselbaren Kosmos. Dabei verleiten seine beispiellos realistischen "Sittengemälde" (Seidl) leicht zu "reaktionären" Schlußfolgerungen.

Bekannt wurde Seidl durch abendfüllende Dokumentarfilme wie "Good News"(1990), "Tierische Liebe" (1995) und "Models" (1999), die seinem einstigen Mentor Werner Herzog das Kompliment entlockten, er habe durch sie "geradewegs in die Hölle geschaut". Trotz ihres dokumentarischen Charakters arbeiten diese Filme stark mit kontrollierten Inszenierungen, in denen die Darsteller "sich selbst spielen". Der Realismus wird nicht durch herumfuchtelnde Digitalhandkameras erreicht, sondern durch hochkonzentrierte Stilisierung. Einen Seidl-Film erkennt man auf den ersten Blick, sei es durch die charakteristisch tableauartigen Bildkompositionen, sei es durch die Auswahl der von ihm bevorzugten Typen.

Sein Markenzeichen ist die verblüffende Authentizität der Darstellung. Dabei baut er häufig auf den Exhibitionismus und die Schamlosigkeit seiner Protagonisten. Nicht selten filmt er sie mit runtergelassenen Hosen, auf der Toilette oder beim Sex. Er sucht geradezu nach intimen Peinlichkeiten, um sie dann in einem beklemmenden, distanzierten Stil gefrieren zu lassen.

Auch in "Jesus, du weißt" stellt Seidl seine Hemmungslosigkeit unter Beweis. Er folgt sechs gläubigen Katholiken in die Kirche und filmt sie beim Beten. Die starre Kamera steht dabei in einiger Entfernung von den Personen, etwa an der Stelle des Altars. Die Gebete erweisen sich als lange Monologe, in denen die Personen ihr Innerstes auf oft peinlich berührende Weise bloßlegen. Da ist die unglücklich verheiratete Hausfrau, die um die Gesundheit ihres Mannes und seine Bekehrung bittet; ein von seiner schrecklichen Kindheit traumatisierter Herr mit Beziehungsproblemen; eine Mordgedanken hegende ältere Dame; ein von puerilen Größenphantasien - er träumt davon, "Old Shatterhand" zu sein - und sexuellen Zwangsvorstellungen geplagter Student; ein junges Paar, dem die wirren religiösen Ambitionen des Mannes im Weg stehen. Die langen Einstellungen auf die Betenden, wie beinahe der ganze Film in weitwinkeligen Totalen aufgenommen, werden ergänzt durch einen immer wieder auftauchenden Kirchenchor, eine Senioren-Rosenkranzrunde oder wortlose Szenen aus dem Alltagsleben der Personen, die ihre Isoliertheit und Einsamkeit betonen. Seidls Inszenierung schafft eine schwer zu definierende, ironisch bis kühl wirkende Distanz zu dem Dargestellten. Die seltsamen Bildausschnitte erzeugen häufig eine vage ridiküle, absurde Stimmung.

Die Frage nach der Lächerlichkeit wird besonders prekär angesichts der Entblößungen, denen sich die Protagonisten selbstvergessen und mit todernsten Gesichtern vor laufender Kamera anheimgeben. Wie immer bei Seidl ist man sich nie ganz sicher, ob er sich nicht doch in ausbeuterischer Absicht an Wehrlosen vergreift, um sie einem Publikum vorzuwerfen, das gewitzter und zynischer ist als sie. Diese jammervollen, mitunter infantil wirkenden Existenzen scheinen alle Vorurteile von Religionshassern zu bestätigen, der Glaube wäre nur noch eine Sache von verklemmten Leuten.

Vielleicht ist die distanzierte Inszenierung aber auch ein Zeichen von Respekt. Die Menschen in Seidls Film berühren trotz allem auf eigentümliche Weise. Ihre anachronistischen religiösen Konflikte mögen das Ergebnis von Lebensschwäche oder gar Neurose sein. Die unglückliche Hausfrau, die sich ernsthafte Sorgen über die demoralisierende Wirkung von Talkshows auf ihre Familie macht, besitzt jedoch eine Sensibilität, die der Masse abhanden gekommen ist und der man nur Sympathie zollen kann. Und wenn Seidls freudlose, verzweifelte Beter nach Atem ringend und tränenerstickt den stummen Barockkruzifixen und -madonnen von ihrer Qual und Angst erzählen, dann stellt sich jenseits der voyeuristischen Befangenheit beim Zuschauer ein beklommenes Mitgefühl ein.

Wie in allen Filmen Seidls wird an diesen einfachen Menschen etwas Allgemein-Humanes sichtbar, etwas zutiefst Demütigendes, Kreatürliches. Sie erleiden Liebeskummer, sind vom Leben enttäuscht und müssen sterben, wie jedermann. Ist das gar die "katholische Philosophie der Desillusionierung", von der T.S. Eliot einmal sprach? Seidl ist vielleicht keineswegs der Zyniker, für den ihn viele halten. Er sieht und zeigt Dinge, vor denen die meisten die Augen verschließen. Es scheint ihm ernst mit seinem Nachdenken über den Glauben, das Leiden und den Tod.


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