© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/05 26. August 2005

Zwischen allen Stühlen
Empörung über die bundesdeutsche Politik anläßlich des 64. Trauertages der Deutschen aus Rußland am 24. August
Robert Korn

Im November 1991 unterzeichneten Bundeskanzler Helmut Kohl und Rußlands Präsident Boris Jelzin während dessen Besuchs in Bonn eine gemeinsame Erklärung. Rußland bekannte sich darin zur "Wiederherstellung der Republik der Deutschen in den traditionellen Siedlungsgebieten ihrer Vorfahren an der Wolga" sowie zur Schaffung und Förderung von nationalen Bezirken für die Rußlanddeutschen in ihren gegenwärtigen Siedlungsgebieten.

Doch schon zwei Monate danach, am 8. Januar 1992, nachdem die einschlägige Finanzierung offensichtlich gesichert worden war, vergaß Jelzin seine Versprechen. Während einer Veranstaltung im Gebiet Saratow ließ der angeheiterte Präsident unter anderem wissen: "Ich mache eine bedeutende Aussage, damit es alle wissen. Dort, wo es keine kompakte Ansiedlung der Wolgadeutschen gibt, das heißt, wo sie nicht die überwiegende Mehrheit haben, wird es keine Autonomie geben! Das garantiere ich euch als Präsident! Eine andere Sache, sagen wir, im Gebiet Wolgograd gibt es ein militärisches Versuchsgelände von 300.000 Hektar (...) dort, sagen wir, können sie sich niederlassen. Und das Land, das von Artilleriegeschossen vollgestopft ist, können sie bearbeiten. Und Deutschland wird ihnen helfen."

Keine Wiederherstellung der Gerechtigkeit in Rußland

In dieser Aussage, die stürmischen Jubel und Begeisterung unter den anwesenden Russen auslöste, gipfelt das Verwirrspiel, das die Sowjets seit der Nachkriegszeit mit ihren nahezu zwei Millionen Bürgern deutscher Volkszugehörigkeit trieben. Jelzins Zynismus schockierte die Rußlanddeutschen, von denen noch viele an die "Wiederherstellung der Gerechtigkeit" glaubten. Nun verstanden auch die standhaftesten unter ihnen, daß mit der Wiederherstellung der Republik der Wolgadeutschen nicht mehr zu rechnen ist.

Die Verachtung und die hinhaltende Politik der Sowjets, die in der Zeit der Perestroika neu entfachte antideutsche Hetze, der nach dem Zerfall der Sowjetunion zunehmende Verdrängungsdruck in Kasachstan und in Mittelasien führten dazu, daß in den Jahren 1991 und 1992 knapp 343.000 Rußlanddeutsche nach Deutschland aussiedelten und über 800.000 einen Aufnahmeantrag stellten. Dieser Exodus setzte dem lebendigen Deutschtum in Rußland ein Ende, welches durch die Pionierleistungen der deutschen Kolonisten, die durch ihre unermüdliche Arbeit im Laufe von mehr als zwei Jahrhunderten beträchtliche Gebiete des Zarenreiches der Zivilisation und Kultur erschlossen, signifikante Spuren hinterlassen hatte.

Im 18. Jahrhundert konnte diese Entwicklung niemand voraussehen. Dem Einladungsmanifest der russischen Kaiserin folgten zwischen 1764 und 1767 etwa 23.000 Deutsche, die über Lübeck und die Ostsee nach Rußland kamen. Einen Teil dieser Einwanderer siedelte man in der Nähe Sankt Petersburgs an, die meisten jedoch wurden für die Kolonisation der Wolgasteppen zwischen Saratow und Zarizyn (Stalingrad, Wolgograd) bestimmt. Dort gründeten sie insgesamt 104 Kolonien, von denen einige durch Nomadenüberfälle vernichtet wurden, gegen die sich die Wolgadeutschen zunächst wehren mußten.

Im 19. Jahrhundert kam dann die Kolonisation des Schwarzmeergebietes und des Kaukasus hinzu, wobei die russische Regierung 1804 beschloß, nicht mehr als 200 Familien pro Jahr als Kolonisten aufzunehmen. Diese Einwanderer sollten freie Bürger sein, die schuldenfrei und mit Genehmigung ihrer Heimatgemeinden nach Rußland auswanderten. Vorgezogen wurden gesunde, verheiratete Bauern und Handwerker, die Bargeld oder Waren im Wert von mindestens 3.000 Gulden als Eigentum nachweisen konnten.

Nach dem Ersten Weltkrieg, dem bolschewistischen Umsturz, dem Ende des Bürgerkrieges und dem Übergang von der Politik des Kriegskommunismus zur Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) begann sich das Land langsam zu erholen. Die Nationalitätenpolitik der Sowjets hatte zum Ziel, die Völker der 1922 gegründeten Sowjetunion für die Mitwirkung am Aufbau des Sozialismus zu gewinnen. Nationalen Belangen sollte durch die Gründung nationaler Verwaltungseinheiten vom Dorfrat bis zur Unionsrepublik besser Rechnung getragen werden. Den Deutschen gelang es, ein deutsches Bildungssystem aufzubauen, das vom Kindergarten bis zur Hochschule reichte. So gab es in der Ukraine im Jahre 1932 außer den deutschen Grund- und Mittelschulen vierzehn verschiedene deutsche Fachschulen, eine Arbeiterfakultät zur Vorbereitung auf ein Hochschulstudium, eine deutsche Abteilung an der Pädagogischen Hochschule in Odessa. Weitere deutsche Fachschulen (Technika) waren im Entstehen.

Im Januar 1924 wurde das Autonome Gebiet der Wolgadeutschen zu einer Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR) der Wolgadeutschen aufgewertet. In dieser Republik entstanden bis Ende der 1930er Jahre fünf deutsche Hochschulen und elf Fachschulen (Technika), ein deutsches Nationaltheater, ein Kindertheater, ein deutscher Staatsverlag und eine ganze Reiche von deutschen Zeitungen und Zeitschriften. Dieser Entwicklung wurde nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges am 22. Juni 1941 ein jähes Ende gesetzt.

Bereits in den ersten Wochen nach Beginn des Krieges verloren die Sowjets die Kontrolle über ihre westlichen Gebiete. Am 10. Juli 1941 begann die Deportation der Rußlanddeutschen von der Krim. Dieses Vorgehen wurde heuchlerisch als "Akt des Humanismus" deklariert. Unter diesem Vorwand wurden etwa 100. 000 Deutsche aus ukrainischen Gebieten östlich des Dnjepr in asiatische Teile der UdSSR deportiert.

Am 28. August 1941 wurde dann per Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets "Über die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolga-Rayons wohnen" die ASSR der Wolgadeutschen beseitigt, da es unter der "in den Wolga-Rayons lebenden deutschen Bevölkerung Tausende und Abertausende Diversanten und Spione" gebe, "die nach einem aus Deutschland gegebenen Signal Sprenganschläge verüben sollten". Damit wurden die Wolgadeutschen, die sich nachweislich stets als loyale Bürger der Sowjetunion verhielten, nur wegen ihrer deutschen Volkszugehörigkeit zu Staatsfeinden erklärt. Es folgte die ausnahmslose Enteignung und Vertreibung in den asiatischen Teil der UdSSR. Insgesamt wurden bis Ende 1941 nachweislich 799.459 Personen mit 344 Zügen deportiert. In den Jahren 1942 bis 1944 folgten ihnen weitere 50.000 Deutsche aus Sankt Petersburg und kleineren Siedlungsgebieten.

Einzige Sowjet-Volksgruppe ohne offizielle Rehabilitierung

Im Anschluß an die Deportation der Zivilbevölkerung wurden ab Oktober 1941 auch deutsche Soldaten und Offiziere der Roten Armee von der Front abgezogen und Einheiten der "Arbeitsarmee" zugeteilt. Ab 1942 wurden auch kinderlose Frauen und später Frauen, die keine Säuglinge hatten, zur Arbeitsarmee einberufen. Die Bezeichnung "Arbeitsarmee" sollte den Anschein erwecken, der Kampf gegen den Feind im Hinterland sei genauso wichtig wie an der Front. Doch in Wirklichkeit handelte es sich um sowjetische Konzentrationslager im hohen Norden sowie in Bergwerken und der Taiga Sibiriens, in denen Hunderttausende Rußlanddeutsche qualvoll ums Leben kamen.

Der Schinderei in den Konzentrationslagern folgten nach Kriegsschluß die Kommandanturaufsicht in den Verbannungsorten und schlimmste rassische Diskriminierung durch die Sowjets über Jahrzehnte hinweg. Im Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 26. November 1948 heißt es: "Für den eigenmächtigen Wegzug (Flucht) aus den Orten ihrer Pflichtansiedlung sind die Schuldigen zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen. Als Strafzumessung für dieses Verbrechen sind zwanzig Jahre Zwangsarbeit anzusetzen."

Ansonsten wurde nur noch betont, die Verbannung sei "auf ewig" gedacht. Ein Schlußstrich war nicht vorgesehen. Erst als Bundeskanzler Konrad Adenauer in die Sowjetunion reiste, um mit den Kreml-Herrschern das Schicksal letzter Kriegsgefangener zu erörtern, hatten seine Verhandlungen vom September 1955 auch für die Rußlanddeutschen Erleichterungen zur Folge. Am 13. Dezember 1955 hob ein Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR das Regime der Sondersiedlung für die Deutschen auf, und die Verbannten durften ab Anfang 1956 ihre Gewahrsamsorte verlassen. Sie durften aber nicht an ihre Heimatorte zurückkehren. Von einer Entschädigung für ihr 1941 beschlagnahmtes Eigentum konnte natürlich überhaupt keine Rede sein.

Da sich vor den Rußlanddeutschen bis heute niemand entschuldigt hat, bleiben sie nach wie vor Vertriebene im eigenen Land, behaftet mit dem Makel, Angehörige des besiegten Feindesstaates zu sein, was ihren Inlandpässen zu entnehmen ist, denn sie werden nach wie vor als Deutsche geführt. Ob sie Deutsch sprechen oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Nur in Inlandpässen neuester Art wird die Volkszugehörigkeit nicht mehr angegeben.

Selbst anläßlich des sechzigsten Jahrestages der Vertreibung entfachten russische nationalistische Verbände im ehemaligen deutschen Wolgagebiet eine antideutsche Hysterie. Deutsche Gräber werden bis heute straflos geschändet. Mitglieder deutscher Vereine werden selbst in Zeitungen, die einflußreichen Parteien nahestehen, als "deutsche Nationalisten" beschimpft. 2001 wurde in Marx (ehemals Katharinenstadt) an der Wolga am Vorabend des Erntedankfestes die evangelisch-lutherische Kirche geschändet und anschließend in Brand gesteckt. Auch deutsche Katholiken klagen immer wieder über ihre Diskriminierung.

Es muß eingeräumt werden, daß die Duma in Moskau 2001 Präsident Wladimir Putin auffordern wollte, sich am 28. August anläßlich des sechzigsten Jahrestages der Deportation bei der Deutschen in Rußland für die Gewaltmaßnahmen der Sowjets zu entschuldigen. Die Rußlanddeutschen, erinnerte der Beschluß der Parlamentarier, sind "das einzige unterdrückte Volk Rußlands, das bis jetzt politisch nicht rehabilitiert ist". Und es sei die einzige nationale Minderheit, der die Wiederherstellung der Autonomie bis heute verweigert werde. Initiatorin des Beschlusses war die Abgeordnete Tamara Pletnjowa, selbst eine Rußlanddeutsche.

Feindliche Politik von Rot-Grün gegen Rußlanddeutsche

Presseberichten zufolge fand dieser Parlamentariervorstoß aus der weitgehend auf Putin getrimmten Duma das Wohlwollen der Kreml-Administration: Eine derartige Geste gegenüber den Nachfahren der deutschen Kolonisten erschien den Präsidentenberatern für Putins Deutschland-Besuch, der damals im September bevorstand, offensichtlich hilfreich. Doch dabei blieb es dann auch. Und das verwundert nicht, da einige Spitzen der deutschen Sozialdemokraten und Grünen trotz eindeutiger Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, welches festgestellt hatte, daß sich "die Folgen der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen in den Herkunftsländern der ehemaligen Sowjetunion sich immer noch auf den dort lebenden Deutschstämmigen auswirken", bereits die "vollständiger Rehabilitierung" der Deutschen in Rußland feststellen.

Es ist bezeichnend, daß ausgerechnet Politiker aus diesem politischen Lager nicht müde werden, den Eindruck in der Öffentlichkeit zu festigen, Spätaussiedler seien für das Aufkommen der Kriminalität in Deutschland maßgeblich verantwortlich. So erklärt sich auch die Praxis, deutschen Aussiedlern nur wegen schlechter deutscher Sprachkenntnisse die Aufenthaltgenehmigung in Deutschland zu verweigern. Bemerkenswert ist dabei, daß mit dem Sprachtest den Rußlanddeutschen Auflagen abverlangt werden, die man von Ausländern, Asylanten oder jüdischen "Kontingentflüchtlingen" nicht fordert. Mit dieser Politik werden sie für die ungesühnten Verbrechen des Stalin-Regimes erneut bestraft, das das deutsche Schulwesen in der UdSSR vernichtet und den Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit verboten hatte. Der Grund für die gegenüber Rußlanddeutschen derart feindliche Politik von SPD und Grünen ist - neben der Annahme, diese seien schon wegen oftmals konservativerer Wertebilder "Stimmvieh" für die Union - wohl darin zu suchen, daß die überwiegende Mehrheit der Rußlanddeutschen die "Multikulti-Vorstellungen" der deutschen Linken ablehnt, weil sie Gott danken, daß sie sich aus einer "multikulturellen" Gesellschaft retten konnten.

Am 28. August, dem 64. Jahrestag der Vernichtung der Wolgadeutschen Republik, wird sich daher in die Trauer der Rußlanddeutschen auch die Empörung über die Politik der rot-grünen Bundesregierung mischen, die keinesfalls konterkariert wird, obwohl sie bewußt ignoriert, daß die mehr als 2,5 Millionen Rußlanddeutschen, die in der letzten Zeit zu uns gekommen sind, sich zum Wohle ihrer neuen Heimat nicht nur nachweislich integriert, sondern sogar wirtschaftlich bewährt haben.

Foto: Kundgebung von Rußlanddeutschen vor dem Bundeskanzleramt 2002: Von Rot-Grün erneut bestraft


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