© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/05 19. August 2005

Bilder sind keine Abbildungen
Einheit von Sinnlichkeit und Natur: Die Neue Nationalgalerie in Berlin würdigt hundert Jahre Expressionismus
Wolfgang Saur

In diesem Jahr blicken wir zurück auf die Kunst des deutschen Expressionismus, zumal der Dresdner "Brücke". Deren Maler strebten vor 100 Jahren nach Aufbruch und neuer Gemeinschaft und hoben so die expressionistische Bewegung aus der Taufe - just zu der Zeit, als Menzel starb und der Impressionismus sich verbraucht hatte. Das pessimistische Zeitgefühl steigerte sich damals zu apokalyptischer Erwartung, die Schrecken des Krieges vorwegnehmend. Intellektuelle registrierten den "Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform" und mit ihm das "Ende der Neuzeit", ja Europas.

Das provozierte die Vision vom "neuen Menschen" und setzte ästhetische Ideen frei, die mit der Tradition brachen: Ägypten, die Ikone, islamisches Ornament, Negerplastik, Südsee boten Modelle, antinaturalistische Bildformen von radikaler Stilisierung, die opponierten gegen klassisches Menschenbild, Proportion und Realitätstreue. Aus der Ölmalerei verschwanden illusionistischer Tiefenraum, Zentralperspektive, Lokalkolorit. Anstelle von Abbild, Harmonie und nachgeahmter Natur traten jetzt die Macht des Ausdrucks und autonomer Geist.

Neue Stichworte deuteten das Zeitgefühl. Sie kamen von Wilhelm Worringer, der eine universelle Stilpolarität entwarf. Dem klassischen Menschen stellte er den gotischen entgegen. Dessen Lebenstrieb führt nicht zur Harmonie von Ich und Welt, zu irdischer Heiterkeit. Im Gegenteil: Der Weltbezug wird total fraglich, innere Spannungen drängen auf Entladung. Solch fundamentaler Dissonanz entspringt ein metaphysischer Wille. Künstlerischen Niederschlag zeigt er in Gotik, Manierismus, Barock, Romantik - und eben: als Expressionismus. Der nun verkündet in der Moderne die Revolte gegen einen Materialismus, der das Leben einschließt und das menschliche Wesen, sein "Unbedingtes" verhüllt.

Tragisch, faustisch, deutsch: Goebbels ekelte sich dennoch

Fünfhundert hochkarätige Werke entfalten jetzt in der Berliner Neuen Nationalgalerie den Bildkosmos der "Brücke", ihr formales und thematisches Spektrum. Im Fokus der Ausstellung steht der Berlin-Aspekt, ist die Stadt doch seit 1911 mit den Malern verbunden. Zu sehen gibt es Ölbilder, Zeichnungen, Holzschnitte und Plastiken aus drei Sammlungen, zumal dem hiesigen Brücke-Museum.

Zwischen 1905 und 1925 hat der Expressionismus alle Künste erfaßt: Architektur, Poesie, Musik, Malerei, Tanz. Doch blieben weit über diese Zeit hinaus Künstler wie Gottfried Benn, Mary Wigman oder Emil Nolde ihrem radikalen Impetus treu.

So tragisch, faustisch, deutsch sich diese auch fühlen mochten, sie kamen bei den Nationalsozialisten schlecht an. Angeekelt lehnte Goebbels zum Beispiel den Ausdruckstanz als gekünstelt und intellektuell ab und notierte: "Tanz muß beschwingt sein und schöne Frauenkörper zeigen." Dieselbe Mischung aus Gefälligkeit und Kitsch zeigt damals auch die Bildkunst, die originale Begabungen nur selten aufwies. Expressionismus dagegen war degenerierte Kunst der "Systemzeit", ein Diffamierungshöhepunkt schlug 1937 mit der Ausstellung "Entartete Kunst".

Nach dem Krieg triumphal rehabilitiert, haben die Expressionisten seitdem kanonische Geltung erlangt. Schon die ersten Nachkriegsausstellungen zeigten breit die Brücke-Maler. Dann entwickelte sich die Rezeption auseinander. In der SBZ kam es schon 1948-50 zur Marginalisierung durch Formalismusdebatte, Ablehnung bürgerlicher Avantgarde und der staatssozialistischen Doktrin einer volksverbundenen, realitätstreuen und parteilichen Kunst.

Hingegen westlich: die schnelle Etablierung zu dem malerischen Paradigma neben der Abstraktion. Die Museen der Bundesrepublik erneuerten ihre Bestände, der Expressionismus erlangte publizistische Konjunktur, die öffentliche Förderung reichte bis ins Kanzleramt. Das glich einstige Verfemung aus, ermöglichte Abgrenzung gen Ost und Anschluß an die internationale Moderne. Als authentisch deutschen Beitrag zu ihr erkannte man jetzt die "Brücke" und den "Blauen Reiter".

Die BRD tat Buße an den zuvor verfemten Künstlern

Die ästhetische Buße erfolgte freilich selektiv. Fast ganz verweht: expressionistische Poesie mit ihren religiösen Manifesten, Mysterienspielen, Wandlungsdramen und ferngerückt: der Ausdruckstanz mit seiner emotionalen Ekstase. Verflüchtigt auch der Spiritualismus in der expressionistischen Kunst, der selbst das Bauhaus inspiriert hatte, las man doch in seinem Manifest, der "Bau der Zukunft" werde "einst gen Himmel steigen als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens". Adaptiert hat man die Expressionisten im Zeichen der "Autonomie": einer Verselbständigung des Ästhetischen und Priorität der Farbe und der freien Subjektivität.

Das erschien der liberalen Gesellschaft plausibel, kritikwürdig freilich der Gegenseite. So formulierte Jost Hermand 1975 die schroffe Absage Ost-Berlins: Seine polemische Formel "Natur-Erotik-leuchtendes Ich" deutet utopische Subjektivität als egoistischen Selbstverwirklichungsindividualismus. Nur als Konstitutionsfaktor der Neuen Sachlichkeit konzediert er relative Legitimität. Ost und West konvergierten also bezeichnend in der Abweisung jedes "übernatürlichen" Gehalts.

Berlin, Babylon der Moderne: Dynamik, Hektik, Konsum

Die Dresdner Architekturstudenten Bleyl, Heckel, Pechstein, Schmidt-Rottluff und Kirchner schließen sich 1905 zur "Brücke" zusammen. Dazu kommen Otto Mueller und 1906/07 Emil Nolde. In diesen Jahren favorisieren sie intensiven Lebenskult und optischen Sensualismus. Man distanziert sich vom akademischen Lehrbetrieb, erstrebt die Einheit von Leben und Kunst, gern in der freien Natur. Anregend wirken die Exotik Afrikas und Indonesiens, malerische Vorbilder sind Gauguin, van Gogh und Munch. Rousseauistisch mutet die Utopie der unverfälschten Natur an, vom ursprünglichen Menschen, von "Spontaneität und Leidenschaft" (Heckel, 1908). Man malt massenhaft Akte, die das zu erfüllen scheinen.

Alle literarische und symbolische Zutat entfällt; Inhaltliches tritt zurück, Formzertrümmerung reduziert minimalistisch, stimuliert hingegen den Farbfaktor. "Ziel ist, Gefühl und Erfahrung durch große, einfache Formen und reine Farben auszudrücken" (Kirchner). Bilder "sind keine Abbildungen bestimmter Dinge oder Wesen, sondern selbstständige Organismen aus Linien, Flächen, Farben, die Naturformen nur insoweit enthalten, als sie als Schlüssel zum Verständnis notwendig sind. Meine Bilder sind Gleichnisse, nicht Abbildungen."

1911 gehen die Brücke-Maler nach Berlin, wo sich auch die expressionistischen Poeten einfinden. Berlin wird mit seinen Zeitschriften, Galerien, Klubs, Theatern zum Zentrum der neuen Kunstrichtung. Wichtig auch durch die Konfrontation ganz neuer Themen. Unterscheidet man den "zeitkritischen" vom "messianischen" Expressionismus, so zeigt auch die Brücke sukzessiv die motivische Bandbreite, von der arkadischen Nacktheit über Zivilisationskritik und Ich-Zerfall bis hin zur frohen Botschaft vom Göttlichen im Menschen und dem künstlerischen Auftrag, Ewiges zu gestalten.

Um die Berlin-Erfahrung gruppiert die aktuelle Ausstellung den Werkbestand in 17 Sektionen. Sie veranschaulichen den "Kampf gegen das Dekorative", die "neue Sinnlichkeit", die "Exotik der Ferne" oder die "Idee vom Gesamtkunstwerk", die urbane Faszination, Nachtleben, Straße, Anonymität, Krieg, Freundschaften und Wohnsituation. Eine Entdeckung sind die Glasfenster Pechsteins, sie sprühen leuchtende Farben und schütten ihre arabeske Gestaltenfülle wie aus einem barocken Füllhorn.

Dagegen setzen Kirchners Berlin-Bilder die "babylonische" Erfahrung um: Dynamik, Hektik, Käuflichkeit. Die Formen splittern. Daneben ist sein Atelier aufgebaut, ein Giebel mit bestickten Textilien, deren eigenwillige Stilisierung die Zeichen der Naturvölker variiert: eine exotische Hütte. Inspirationsquelle waren die Kultobjekte der Palau-Inseln, damals deutsche Kolonie. Manch einer fuhr selbst dorthin, so Nolde: "Die absolute Ursprünglichkeit, der intensive, oft groteske Ausdruck von Kraft und Leben in allereinfachster Form, - das möge es sein, was uns Freude gibt."

Die Berliner Realität sah anders aus. An ihrer spannungsvollen Härte zerbrach die "Brücke" 1913, sie "zwang jeden von uns, sich auf eigensten Wegen durchzuschlagen", so Pechstein. Die kalte Urbanität hatte die Einheit von Sinnlichkeit und Natur zerbrochen. Sie provozierte komplizierte Bildformen, die den nervösen Antagonismus reflektierten, der noch tieferes Destruktionspotential verbarg. Das wurde 1914 klar. Der Krieg als Herausforderung machte bürgerliche Kunstübung nun erst recht obsolet. Die "Wucht solchen Völkerwahnsinns" erzwang einmal mehr die Besinnung auf den absoluten Impuls der neuen Kunst.

Ernst Ludwig Kirchner, "Die Straße" (1913): Die Formen splittern

Die Ausstellung "Brücke und Berlin. 100 Jahre Expressionismus" ist noch bis zum 28. August in der Neuen Nationalgalerie, Potsdamer Str. 50, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Do. bis 22 Uhr und Sa./So. ab 11 Uhr, zu sehen. Tel.: 030 / 2 66 26 51


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen