© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/05 19. August 2005

Historische Gräben zuschütten
Europäische Union: Zur Lösung ökonomischer und struktureller Probleme könnte eine Renaissance Mitteleuropas beitragen
Andreas Mölzer

Was ist Mitteleuropa? Mehr als ein geographischer Begriff, mehr als jener Bereich zwischen West- und Osteuropa, zwischen Nord- und Südeuropa? Gibt es eine geistig-kulturelle Dimension Mitteleuropas, die es klar unterscheidet von den übrigen Bereichen des alten Kontinents? Gibt es eine geopolitische Dimension, die Mitteleuropa ein spezielles Gewicht auch im Zuge des gegenwärtigen europäischen Integrationsprozesses verleiht? Fragen, die nicht so einfach zu beantworten sind.

Seit der EU-Osterweiterung und davor seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist von Mitteleuropa nicht mehr allzuviel die Rede. Bis 1989 galt Mitteleuropa als eine geistig-machtpolitische Dimension, die man gerne zitierte, um Perspektiven für die Überwindung der europäischen Teilung aufzuzeigen. Auf Mitteleuropa beriefen sich Habsburg-Nostalgiker ebenso wie die Apologeten des Donauraums um den ÖVP-"Linken" Erhard Busek. Von Mitteleuropa sprachen zu Sowjetzeiten die Dissidenten in Prag, in Preßburg oder in Budapest, wenn sie ihrem Unbehagen über den Warschauer Pakt vorsichtig Ausdruck verleihen wollten. Mit der Einbeziehung dieses Raumes in die EU-Osterweiterung und damit in die aktuelle europäische Integration war dieser Bezug überflüssig.

Geographisch muß man Mitteleuropa nicht näher definieren. Der Raum zwischen Rhein und Weichsel, zwischen Nord- und Ostsee einerseits und den südlichen Ausläufern der Alpen andererseits, stellt Mitteleuropa dar. Diese geographische Dimension war in der Mitteleuropa-Debatte der siebziger und achtziger Jahre gar nicht konkret berücksichtigt worden. Deutschland, das nun einmal die Mitte des Kontinents und damit auch das Herz Mitteleuropas und dessen Schwerpunkt darstellt, klammerte man dabei bewußt aus - eine geopolitisch wie auch geistig-kulturell unzulässige Vorgangsweise.

Gerade in historischer Betrachtungsweise ist Mitteleuropa nämlich ausschließlich und schwergewichtig mit Deutschland in Zusammenhang zu bringen. Die Mitte des alten Abendlandes, das war das Heilige Römische Reich deutscher Nation, regiert und gestaltet zuerst von der Rheinachse aus, die von Aachen Karls des Großen über die Städte Mainz, Worms und Speyer reicht, wo sich die romanischen Kaiserdome befinden, dann verwaltet von der Achse Berlin-Prag-Wien aus. Diese Achse wanderte im Zuge der deutschen Ostsiedlung während des gesamten Mittelalters nach Osten und läßt sich in der Neuzeit an den Residenzstätten der Habsburger und der Hohenzollern festmachen.

Demgemäß waren die Mittelmächte, die im Ersten Weltkrieg von Westen und Osten bekämpft wurden, die Erben dieses Mitteleuropa. Das wilhelminische Deutschland und die k.u.k-Monarchie waren zwangsläufig damit auch die geopolitische Ausgangsbasis für die Mitteleuropa-Ideologie des altliberalen Friedrich Naumann. Dessen Konzept allerdings wäre nur nach einem Sieg Deutschlands im Ersten Weltkrieg realisierbar gewesen. Die Friedensdiktate von Versailles, Trianon und Saint Germain machten all diese Ambitionen zuschanden.

EU-Wohlstandsgrenze am früheren "Eisernen Vorhang"

Gegenwärtig scheint es, als wäre der Begriff Mitteleuropa politisch und geistigkulturell ohne Bedeutung, als bräuchte man ihn nur mehr als geographische Angabe. Die europäische Integration und die EU-Osterweiterung - zunächst unter Einbeziehung des Baltikums und Polens, demnächst um Rumäniens, Bulgarien und weitere Länder des Balkans - scheint den Begriff Mitteleuropa überflüssig zu machen.

Da behilft man sich eher mit Bezeichnungen wie "Altes Europa" und im Gegensatz dazu das "Neue Europa" im Osten. Die europäische Wohlstandsgrenze, die in etwa am früheren Eisernen Vorhang verläuft, scheint eine solche begriffliche Aufteilung auch sinnvoll zu machen. Fraglich ist nur, ob historisch-kulturelle Konstanten wie etwa der Geist der alten Habsburger Monarchie und auch der Geist des untergegangenen Preußen so etwas wie eine spezifisch mitteleuropäische Atmosphäre auch im 21. Jahrhundert bedingen können.

Sind Tschechen, Slowaken, Ungarn, Slowenen, Kroaten und Österreicher einander innerhalb des offenen, sich integrierenden Europas noch in besonderer Weise nahe? Haben Deutsche, Esten, Letten, Litauer und Polen kulturelle Verbindungen und auch konkrete politisch-ökonomische Interessen, die sie im gleichgestalteten Europa miteinander in höherem Maße verbinden?

Es sind dies Fragen, die sich nicht so leicht beantworten lassen. Die Zwänge der Geographie aber und nachbarschaftliche Nähe können auch für die Zukunft ein Sonderverhältnis der mitteleuropäischen Nationen begründen. Das gemeinsame historische Erbe ist ja auch durch das gemeinsam erlebte Grauen der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts überdeckt. Dieses Grauen zu überwinden, ist längst noch nicht in allen Bereichen gelungen. Auch dieses Überwinden, das Zuschütten alter historischer Gräben wäre eine spezifisch mitteleuropäische Aufgabe, mit der West- , Nord- und Südeuropäer weniger zu tun haben.

Abgesehen davon allerdings gibt es eine Fülle ganz konkreter ökonomischer und struktureller Probleme, die uns Mitteleuropäer auch im 21. Jahrhundert miteinander verbinden. Da sind beispielsweise Fragen des wachsenden Straßen- und Schienenverkehrs, der sich hier in der Mitte Europas kreuzt, da sind die sozialen Probleme der Zuwanderung und viele andere Bereiche mehr, die es zu bewältigen gilt.


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