© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/05 12. August 2005

Die ermattete Mitte
Mit der Krise in den Schlamassel: Der Wahlkampf offenbart die Ideen- und Konturlosigkeit der Parteien
Fritz Schenk

Das dürfte sich der Bundespräsident wohl anders gedacht haben. Als er am 21. Juli das Parlament auflöste und die vorgezogene Bundestagswahl freigab, haftete seinem Auftritt im Fernsehen so etwas wie das schon 1997 von seinem Vor-Vorgänger Roman Herzog angemahnte "Ruck"-Kommando an. "Unser Land steht vor gewaltigen Aufgaben", hatte Horst Köhler begonnen. Dann kam die Aufzählung all jener Brocken die weggeräumt werden müßten, um das Land vor dem Sturz in den Abgrund zu retten.

Sie sind allen auch nur einigermaßen politisch aufgeschlossenen Bürgern bekannt: die millionenfache Arbeitslosigkeit, die Überschuldung der Staatshaushalte, mangelnder Kindersegen und Überalterung der Bevölkerung, die überforderten Sozialsysteme, die Konzeptlosigkeit gegenüber der Globalisierung. Auf nichts hatte die rot-grüne Regierung in sieben Jahren ihrer Herrschaft überzeugende Antworten gefunden.

Die Bürgerstimmung war auf dem Nullpunkt. Das SPD-Wahldebakel in Nordrhein-Westfalen hatte das bewiesen. Rot-Grün schien am Ende zu sein, Gerhard Schröder resigniert, zum Aufgeben geneigt, daher dessen Trick mit vorgezogenen Wahlen. Auf der anderen Seite befand sich die CDU im Aufwind. Umfragewerte ließen gar eine absolute Mehrheit der Union vermuten. Zumindest erschien eine handlungsfähige Mehrheit von Schwarz-Gelb so gut wie sicher. Wäre das nicht der schnellste Weg aus dem Desaster?

In nur drei Wochen hat sich das Bild verändert. Hals über Kopf haben sich die Parteien in den Wahlkampf gestürzt. Und dabei spielen die Probleme des Landes so gut wie keine Rolle. Noch weniger scheinen die Wähler zu interessieren. Mit Schlagworten von gestern (Reichensteuer, Mehrwertsteuer, Bürgerversicherung, Kopfpauschale, Gesundheitsprämie, Fremdarbeiter) wird über ihre Köpfe hinwegsalbadert.

Aufgekommen ist unter Führung von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi eine Gruppierung von Versagern, die die Meinungs- und Stimmungsmache an sich gerissen hat. Das fällt ihr deshalb leicht, weil es ja die vom Bundespräsidenten genannten brennenden Probleme gibt, die nicht ohne schmerzhafte Operationen behoben werden können. Ergo: Wo und wann immer ein besonnener Kopf die Dinge beim Namen nennt, die Finger auf die Wunden legt, erheben sofort die berufsmäßigen selbsternannten Wohltäter ihre anklagenden Stimmen, da werde Sozialabbau und Umverteilung von unten nach oben, Politik ausschließlich zugunsten der Reichen betrieben - und schon gehen die Angegriffenen in die Knie.

Auf ebendiesem Gebiet spielen Schröder und Genossen ihre eigentlichen Stärken aus. Gerade von ihnen kommt kein ernstzunehmender Vorschlag für Reformen, nur - im Chor mit den äußersten Linken - das altbekannte Verteufeln, was die Schwarzen an boshafter Hinterhältigkeit im Schilde führen. Genauso rappelt sich Schröder, ehe man sich's versieht, wieder aus dem Tief der Meinungsumfragen heraus.

Man sieht, die Tricks wirken. Peu à peu mogeln sich auch die Parteien der Versager aus dem Stimmungstief heraus. Genüßlich werden Versprecher wie Angela Merkels Verwechslung von Brutto- und Nettoeinkommen ausgeschlachtet. Da können sie auch auf größtmögliche Unterstützung in den Medien rechnen.

Geradezu ein gefundenes Fressen sind solche Patzer, wie einer soeben dem brandenburgischen CDU-Innenminister Jörg Schönbohm mit seinen Bemerkungen zu den unglaublichen Kindesmorden in der Nähe von Frankfurt/Oder unterlaufen ist. Sofort ist wieder ein Thema gefunden, das zwar nicht das geringste mit unseren drückendsten Problemen zu tun hat, aber Stimmungen anheizt und den schwarzen Gegner in die "rechte" Ecke stellt.

Auf dreißig Prozent ist die neue SED, die sich nun einfach nur "Linkspartei" nennt, in den Umfragen der neuen Ländern in die Höhe geschnellt. Das wird am Ende vielleicht nicht herauskommen, doch ist Vorsicht geboten. Mit den Rechten können oder wollen die mitteldeutschen Protestwähler das westdeutsche Establishment wohl nicht mehr schrecken, da könnte es durchaus sein, daß sie diesmal ihre "Denkzettel" in Richtung links verpassen.

Das hat nun ein weiteres Orakeln ausgelöst. Mit der Veröffentlichung jeder neuen Wählerumfrage und dem Schwinden klarer Mehrheiten für Schwarz-Gelb schießen die Spekulationen über mögliche andere Koalitionen ins Kraut: ein weites Feld für die Profilierungsversuche jener, die sich ansonsten in diesem Wahlkampf nicht oder kaum zu Gehör bringen können.

Selbstverständlich glaubt niemand Schröder oder Franz Müntefering, wenn sie beteuern, daß es mit der SED-Linkspartei nie zu einer Koalition kommen werde. Das dürfte nur insofern stimmen, als zwischen ihnen - vor allem, was das Verhältnis zu Lafontaine betrifft - rein menschlich nichts mehr geht. Was das vermeintlich Programmatische angeht, dürfte es da keine Hürden geben, denn etwas, was den Namen Programm verdienen könnte, haben ja alle nicht.

Wenn denn die Wahl weder für Schwarz-Gelb noch für Rot-Grün überzeugende Mehrheiten brächte, begänne ohnehin erst danach das Mauscheln um Bündnisse, Personen und Posten, wobei nur die kleinsten gemeinsamen Nenner herauskommen könnten. Interessant dabei ist, daß mehr und mehr eine große Koalition ins Gespräch gebracht wird, über die auch an Stammtischen immer lauter gefachsimpelt wird.

Jedenfalls zeigt sich als Zwischenergebnis der bisherigen Entwicklung seit Schröders Überraschungstrick vom 22. Mai und dem Einschwenken des Bundespräsidenten auf die vorgezogenen Wahlen, daß sich vor Beginn der heißen Phase dieses bisher so unglaublich inhalts- und konturlosen Wahlkampfes keine Hoffnungsschimmer auf einen Wandel zum Besseren erkennen lassen. Der Wähler ist unsicherer denn je, wem er seine Stimme geben soll.

"Machen Sie von Ihrem Wahlrecht sorgsam Gebrauch", sagte Köhler zum Abschluß seiner Fernsehansprache zur Auflösung des Bundestages. Wo aber ist die Sorgsamkeit der Parteien im Umgang mit dem Souverän, um dessen Stimme sie mit überzeugenden Argumenten werben sollten, werben müßten?

Wo jedoch nur Emotionen geschürt, Personen verächtlich gemacht und die brennendsten Sachverhalte aus Feigheit ausgeklammert werden, kommen am Ende Wahlergebnisse heraus, die ein wirkungsloseres Parlament hervorbringen könnten als das, welches der Bundespräsident vorzeitig entlassen hat. Die Weimarer Demokratie hat das mit ihrem Untergang bezahlt, und der Bundesrepublik sollte nach dem Grundgesetz ein ähnliches Schicksal erspart bleiben. Das ist nun wohl passé.


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