© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/05 29. Juli / 05. August 2005

Ansätze für ein beginnendes Umdenken
Vor sechzig Jahren fanden Massaker gegen Deutsche in Aussig an der Elbe statt / Die Aufarbeitung wird in Tschechien nach wie vor behindert
Martin Schmidt

Am 31. Juli gilt es an eines der schlimmsten Ereignisse der unmittelbaren Nachkriegszeit zu erinnern: das Massaker von Aussig. Die Opfer waren damals Deutsche und die Täter zumeist Tschechen. Über 2.000 Bewohner der nordböhmischen Stadt wurden ermordet, darunter zahlreiche Kleinkinder, Frauen und Greise. Tschechische Revolutionsgardisten und einige Rotarmisten verprügelten die mit weißen Armbinden gekennzeichneten Einheimischen mit Brechstangen und Zaunlatten, warfen sie wahllos in die Elbe und schossen mit Maschinengewehren und Pistolen auf all jene, die sich schwimmend zu retten versuchten. Der Fluß trieb die Leichen bis weit nach Sachsen hinein. Im betreffenden Zeitraum wurden in den dortigen Ufergemeinden etwa achtzig nicht näher identifizierte Tote angeschwemmt, die aber wahrscheinlich nur zum Teil in Aussig umgekommen waren. Zu weiteren Gewalttaten kam es außerdem vor dem Bahnhof, auf dem Marktplatz und dem Brückenplatz.

Die Übergriffe gegen die Deutschen gehörten zum Plan

Vorangegangen war eine wahrscheinlich von tschechischen Agenten inszenierte Explosion des Munitionsdepots in Schönpriesen, die deutschen "Werwolf"-Saboteuren angelastet wurde. Offensichtlich sollte ein Vorwand für einen großangelegten "Racheakt" an Sudetendeutschen geliefert werden, um bei den Teilnehmern der gerade laufenden Potsdamer Konferenz den Anschein zu erwecken, daß ein weiteres Zusammenleben von Tschechen und Deutschen in diesem Teil Europas nicht gelingen könne. So wollte man suggerieren, daß nur eine Vertreibung der letzteren vergleichbare Exzesse für die Zukunft verhindern könne. Peter Glotz stellt fest: "Die Massenmorde (...) in Aussig, Brünn, Postelberg, Landskron, Wekelsdorf und anderen Orten waren nicht einfach 'Übergriffe'. Sie gehörten zum Plan; da zwar nicht Stalin, wohl aber die Westmächte inzwischen an ihren eigenen Zusagen, die Vertreibung zuzulassen, zweifelten, wollte die erste tschechische Nachkriegsregierung vollendete Tatsachen schaffen."

Der brutale Plan der nationalistischen Prager Politiker hatte Erfolg: Zwei Tage nach den blutigen Ereignissen, also am 2. August, bestätigten die alliierten Siegermächte im Potsdamer Abkommen die "Überführung deutscher Bevölkerungsteile" aus dem Sudetenland, den ostdeutschen Provinzen und aus Ungarn. Aus Aussig mußten laut entsprechenden Aufzeichnungen aus dem Stadtarchiv 50.905 Personen ihre Heimat verlassen.

Genaue Opferzahlen für den 31. Juli sind angesichts der chaotischen Zustände des Sommers 1945 schwer festzustellen, zumal sich die tschechische Regierung auch sechzig Jahre nach Kriegsende noch weigert, die in Prager Archiven befindlichen Unterlagen über die Exzesse zur Einsicht freizugeben. Die deutschen Angaben schwanken zwischen 1.000 und 2.700 Toten und beruhen im wesentlichen auf Zeitzeugenberichten.

Auf der politischen Ebene begegnet die tschechische Seite diesem dunklen Kapitel der eigenen Nationalgeschichte mit Desinteresse oder gar Zynismus. Die Brücke, von der so viele Aussiger Deutsche in den Tod gestürzt wurden, erhielt ausgerechnet den Namen des für die gleichnamigen berüchtigten Vertreibungsdekrete verantwortlichen Ex-Präsidenten Edvard Benes. Tschechische Täter vom 31. Juli werden unter Verweis auf das am 8. Mai 1946 beschlossene Straffreiheitsgesetz (Amnestiegesetz) nicht verfolgt. Die Aufstellung einer Benes-Statue vor dem Prager Außenministerium verdeutlichte noch am 16. Mai dieses Jahres die anhaltend unkritische Bewertung dieses Mannes als "große Persönlichkeit, vor allem während des Zweiten Weltkrieges" (Regierungschef Paroubek).

In der breiten tschechischen Öffentlichkeit ist hinsichtlich des Massakers von Aussig das pure Unwissen vorherrschend oder eine in bezug auf Vertreibungsunrecht feststellbare Gleichgültigkeit. Einschlägige nationalchauvinistische Kreise verbreiten die These, daß in Aussig lediglich sechs Menschen umgekommen seien, und zwar als Folge einer durch einen angeblichen deutschen Sabotageakt (eben jene bereits erwähnte Explosion) ausgelösten spontanen Empörung der Bevölkerung. Diese These ist schon insofern unwahrscheinlich, als die angestammte Bevölkerung fast nur aus Deutschen bestand, etwa 60.000, zu denen erst 1945 maximal 3.000 Tschechen stießen. Historiker wie der Aussiger Stadtarchivar Vladimir Kaiser erscheinen mit ihren abweichenden Darstellungen schon allein deshalb seriöser, da sie nicht durch erkennbare antideutsche Vorurteile auffallen. Der Archivar geht für den 31. Juli 1945 von 43 bis 100 Toten aus, beruft sich allerdings ausschließlich auf offizielle lokale tschechische Dokumente aus der damaligen Zeit.

Eine vom Deutschen Kulturverband, also einer der beiden großen Minderheitenorganisationen der Deutschen in Tschechien, vor zehn Jahren anläßlich des 50. Jahrestages der Aussiger Bluttat geplante Gedenkveranstaltung mußte nach Gewaltankündigungen der im "Klub des tschechischen Grenzgebietes" zusammengeschlossenen deutschfeindlichen linksextremen Kommunisten und rechtsextremen Republikaner abgesagt werden.

Doch seit einigen Jahren sind Ansätze für ein beginnendes Umdenken in Teilen der vor allem jüngeren tschechischen Bevölkerung auszumachen. Nachdem die mährische Hauptstadt Brünn bereits zu einer Gedenkfeier für die Opfer des am 31. Mai 1945 begonnenen "Brünner Todesmarsches" geladen hatte, will am 31. Juli diesmal endlich auch die Kommune Aussig an einen der schwärzesten Tage der Ortsgeschichte erinnern. Nach Angaben des Oberbürgermeisters Petr Gandalovic soll zu dem traurigen Jubiläum an der "Benes-Brücke" eine zweisprachige Gedenktafel enthüllt werden. Eine erfreuliche Geste, wenngleich die geplante Aufschrift inhaltlich allzu dürftig ausfällt: "Zum Gedenken an die Opfer des Massakers am 31. Juli 1945".

Vaclav Klaus verharmlost Massaker als Folge des Krieges

Studentenorganisationen wie die für eine an den Tatsachen orientierte tschechische Vergangenheitsbewältigung streitende Gruppe "Antikomplex" oder Historiker wie Emanuel Mandler sind zwar noch Außenseiter und werden heftig attackiert, aber sie machen dennoch Mut. Mandler sorgte zuletzt für Aufsehen, als er in der Mlada Fronta Dnes sowie in der deutschsprachigen Prager Zeitung verkündete, die Vertreibung der Sudetendeutschen sei das Ergebnis einer Politik, die einen ethnisch reinen slawischen Staat zum Ziel hatte.

Staatspräsident Václav Klaus tat diese historisch keineswegs abwegigen Behauptungen schlichtweg als "Unverschämtheit" ab, da "das, was nach dem Krieg geschah, einzig und allein eine Folge, aber nicht eine Ursache gewesen sein" könne. Er erwies sich damit erneut als Repräsentant der tschechischen Bevölkerungsmehrheit, deren Sympathien er leider auch deshalb genießt, weil er in Sachen Vertreibung der einstigen deutschen Mitbewohner Böhmens, Mährens und Sudetenschlesiens eine Vogel-Strauß-Politik verficht.

Foto: Benes-Gedenkstein auf der Elbbrücke in Aussig, auf der 1945 das Massaker stattfand: In der breiten tschechischen Öffentlichkeit ist das pure Unwissen über die Nachkriegsverbrechen vorherrschend


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