© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/05 29. Juli / 05. August 2005

Im Moloch ist die Hölle los
Kunstvoll: Paul Haggis' Episodenfilm "Crash" verknüpft die Erzählstränge bruchlos
Claus-M. Wolfschlag

Crash" ist ein Episodenfilm der Superlative. Das kann man sagen, ohne in Übertreibungen schwelgen zu müssen. Eine selten gesehene Vielzahl von Akteuren begegnet den Zuschauern, dargestellt durch eine hochkarätige, hervorragend agierende Schauspielerriege, die von Sandra Bullock über Matt Dillon bis Brendan Fraser reicht.

Das Regiedebüt von Drehbuchautor Paul Haggis ("Million Dollar Baby") zeigt zahlreiche Einzelschicksale in einer amerikanischen Megacity des 21. Jahrhunderts. Ausgehend von einem eigentlich unwichtigen Verkehrsunfall wird 24 Stunden zurückgesprungen. Jede der vorgestellten Personen erlebt in diesen Stunden ihren ganz persönlichen "Crash". Die wohlhabende Juristengattin versucht die traumatischen Folgen eines Raubüberfalls und ihre Einsamkeit zu bewältigen. Ein mexikanischer Schlüsseldienst-Mitarbeiter müht sich, für seine kleine Tochter ein bürgerliches Familiendasein ohne Gewalt aufzubauen. Zwei schwarze Kleinkriminelle überfahren einen Chinesen. Zwei Polizeikollegen geraten nach einer aggressiv durchgeführten Fahrzeugkontrolle miteinander in Konflikt. Und so folgen noch zahlreiche weitere Figuren und Momente, deren Geschichten bruchstückhaft wiederkehrend ständig neu aufgenommen und in den Gesamterzählstrang integriert werden.

Trotz der Vielzahl der Personen und Episoden verliert man nie den Faden, sondern begleitet die Figuren stets aufmerksam bei der Auseinandersetzung mit ihren eigenen Problemen. Kunstvoll versteht Haggis es, die Erzählstränge - mal enger, mal weiter - miteinander zu verknüpfen, so daß überhaupt keine Brüche entstehen: Alles ist miteinander verwoben, jedes Handeln hat Folgen, wirkt sich auf das Gesamtgefüge der Welt aus.

"Crash" ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Zustand der US-amerikanischen Gesellschaft. Ein Tag im Leben ganz unterschiedlicher Menschen im Moloch Los Angeles wird zum mosaikartig zusammengesetzten Spiegel der "multikulturellen" Realität. In den Episoden vermittelt Haggis aus Momentaufnahmen von Menschen gänzlich unterschiedlicher kultureller und sozialer Milieus ein Kaleidoskop der amerikanischen Gesellschaft der Gegenwart.

Anschaulich werden dabei die latenten kulturellen Spannungen zwischen den verschiedenen Ethnien und ebenso die politisch korrekte "Rassismus"-Hysterie, die alle Schichten erfaßt hat. Das schwarze Proletariat glaubt, seine Situation mit Thesen von bewußter Benachteiligung und Diskriminierung erklären zu können. Die weiße Oberschicht fürchtet nichts so sehr wie den hinter jedem Kieselstein lauernden Vorwurf des "Rassismus". Bigotte Moralapostel spielen sich als Menschenfreunde auf, um bei der nächsten Gelegenheit in die Untiefen der eigenen Vorurteile zu fallen. Zu Unrecht Verfolgte meinen sich rächen zu müssen und treffen wieder nur Unschuldige.

Haggis versteht es meisterhaft gnadenlos, alle Klischees in ihr Gegenteil umzukehren. Der rassistische Polizist erweist sich als treusorgender Sohn und Lebensretter. Aus dem verfolgten Muslim wird ein durchgedrehter Pistolero. Und der antirassistische Saubermann tötet einen schwarzen Jungen. Es gibt kein klar trennbares Gut und Böse, und das macht "Crash" sehenswert.

Die hier gezeigte Gesellschaft gleicht einem Pulverfaß, das nur noch Reste humaner Ethik und der Traum vom großen Geld am Explodieren hindern. Als ein schwarzer Dieb in einem Kleintransporter zufällig eine zusammengepferchte Gruppe illegaler thailändischer Einwanderer findet, entläßt er die potentiellen Arbeitssklaven einfach in die Freiheit einer amerikanischen Geschäftsstraße.

Die verwirrten Asiaten sind als unwissende Urmenschen überzeichnet - als gäbe es selbst in den entferntesten Winkeln Thailands noch kein Fernsehen oder Internet. Doch sie dienen der Symbolik. Schmutzig wie ein Neugeborenes aus dem Auto in die fremde Welt geschlüpft, steht einer der Flüchtlinge vor einem grell beleuchteten Einkaufsladen. Videokassetten reihen sich aneinander, Bildschirme blinken, und er staunt wortlos mit den Augen eines Kindes, das zum ersten Mal eine Kathedrale betritt. Die Tempel Amerikas und seiner Moderne sind die Einkaufsläden, die Kaufhallen, Malls und Schnellimbißrestaurants. Es ist eine kalte, rein auf materielle Dinge fokussierte Welt. Der Film startet am 4. August in den Kinos.

Schlosser Daniel (Michael Peña) und seine Tochter Lara (Ashlyn Sanchez): Bürgerliches Dasein Graham Waters (D. Cheadle), Christine Thayer (T. Newton) Rick Cabot (B. Fraser), Ehefrau


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