© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/05 29. Juli / 05. August 2005

Märchenstunde mit Nebenwirkung
Kampf gegen den Terror: In den USA werden auch künftig die Daten von Bibliotheksnutzern gespeichert
Richard Stoltz

Wer in Amerika ein Buch ausleiht, wird automatisch erkennungsdienstlich behandelt. Seine Daten werden gespeichert, die von ihm ausgeliehenen Bände auf eventuell terroristische Inhalte durchleuchtet. Der sogenannte "Patriot Act", der solches vorschreibt, ist vom Repräsentantenhaus in Washington soeben um zehn Jahre verlängert worden. Man will damit Selbstmordanschläge wie in London oder Scharm Al Scheich verhindern helfen.

Aber wer geht denn heute noch in eine Leihbibliothek, um sich Vernunftgründe für das Tragen von Sprengstoffgürteln zu verschaffen? Den Politikern, die diesen "Patriot Act" erlassen haben, stand möglicherweise das historische Bild von Karl Marx vor Augen, wie er in der British Library Adam Smith, Hegel und Fourier studiert und mittels der dadurch erlangten Erkenntnisse anschließend seinen verheerenden Sozialismus zimmert. Mit moderner Wirklichkeit hat das nichts zu tun, eher mit Märchenstunde.

Es ist freilich eine Märchenstunde mit fataler Nebenwirkung. Ein allgemeines Spitzelnetz wird etabliert und auf den Höhepunkt gebracht. Bücher, die üblicherweise Horizonte öffnen und vielerlei Auslegung anbieten, schnurren unterm Blick der Schnüffler zu bloßen Bastelanleitungen für Bomben und Sprengstoffgürtel zusammen. Der stille Lesesaal, bisher eher Gleichnis für geistige Unabhängigkeit, verwandelt sich in ein Symbol für Rekruten-Ausbildung und Zeloten-Training.

Bleibt nur eine Hoffnung: daß nämlich die Schnüffler und Zensoren durch die riesige Fülle der anfallenden Analysen allmählich selber eine Horizonterweiterung erfahren und ihnen allmählich aufgeht, daß Terror nicht aus Wissen, sondern aus Dummheit entsteht.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen