© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/05 29. Juli / 05. August 2005

Donner der Ungewißheit
Farbspiele zwischen Himmel und Hölle: Die Jagd auf Sonnenuntergänge als neues Urlaubshobby
Günter Zehm

Ein leidenschaftlicher Amateurfotograf, gefragt, was er denn in seinem Urlaub so machen werde, antwortete: "Jagd auf Sonnenuntergänge". Sonnenuntergänge sind zum "Kultobjekt" sämtlicher Bildproduzenten der Saison geworden. Kein Natur- oder Abenteuerfilm im Fernsehen mehr, der nicht in einen veritablen Sonnenuntergang einmündet. Malzirkel der Volkshochschulen trainieren ihr Farbgefühl fast nur noch an der Verfertigung von Sonnenuntergängen. Zahllose "(We)Blogs" im Internet diskutieren voll Eifer, wo in der Welt die besten Sonnenuntergänge zu haben seien und wie das technische Gerät beschaffen sein müsse, um sie möglichst problemlos einzufangen.

Was auffällt, ist die völlige Abwesenheit von Romantik bei der Auswahl der Objekte. Einst spottete Heinrich Heine: "Das Fräulein stand am Meere / Und seufzte lang und bang. / Es rührte sie so sehre / Der Sonnenuntergang". Heute kann von Rührung und Gerührtsein überhaupt nicht mehr die Rede sein. Weder das Meer noch Palmen noch sonst eine sentimentale Kulisse sind offenbar mehr nötig, um einen Sonnenuntergang "optimal" einzufangen. Das Optimum besteht nur noch in der gelungenen Farbzusammenstellung, nicht mehr in der Erzeugung bestimmter Gefühlswerte.

Glaubt man den Debatten in den "Blogs", so sind die derzeit (was die Anreisekosten betrifft) billigsten und trotzdem besten Untergänge auf dem Campus der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg und im litauischen Hafen von Klaipeda (ehemals Memel) zu schießen. Auch das Brandenburger Tor in Berlin rangiert auf der Liste der Untergangsjäger weit oben. Sie stellen sich zur richtigen Zeit bei möglichst gemischtem Wetter auf der Straße Unter den Linden nahe dem Hotel Adlon auf und fotografieren das Farbenspiel durch die Säulen des Tores hindurch. Das, so heißt es, ergebe einen "garantiert coolen" Effekt.

Die spektakulärsten Untergänge, darüber sind sich alle Experten mittlerweile einig, sind am "Vagator Beach" zu haben, einem zauseligen Ufer in einer bösen Proletengegend des indischen Goa, die man nur unter größten Strapazen erreicht und die von Moskitos und fliegenden Händlern nur so wimmelt. Der Strand ist verdreckt, der örtliche Palmenbestand ist mickrig und weist just an den strategisch wichtigen Stellen herbe Lücken auf. Und dennoch ermöglicht Vagator Beach angeblich "eine ganz und gar neue Definition von Sonnenuntergang". Untergangsbilder von Vagator Beach seien "preposterously beautiful", also geradezu blödsinnig schön, absurd schön, eine Mischung aus Himmel und Hölle mit allen nur möglichen und unmöglichen Zwischentönen.

Eine der Hauptursachen für das Himmel-Hölle-Spektakel ist eine durch irgendwelche ungünstigen Winde herbeigeführte extreme Luftverschmutzung über Vagator Beach. Denn Luftverschmutzung, so hat man gelernt, ist eine der wesentlichen Ursachen für besonders schöne Sonnenuntergänge. Die Schmutzpartikel reflektieren und brechen das Licht in trillionenfacher Vielfalt, je nachdem, aus welchem Winkel und mit welcher Intensität die untergehenden Strahlen jedes einzelne Partikel treffen. Die Strahlen sehen aus wie die Strahlen gigantischer Flakscheinwerfer. Schmutz schlägt unmittelbar um in Farbenpracht, zum Nutzen der schon früh fürsorglich in Stellung gegangenen mückenzerstochenen Fotografen.

Hinzu kommt, daß es in Vagator Beach faktisch niemals nur ein einziges Wetter gibt, es niemals nur exklusiv regnet oder exklusiv die Sonne scheint. Vielmehr sonnenscheint und regnet es immer gleichzeitig. Die Sonne verschwindet nicht nur gewissermaßen planmäßig hinter dem Horizont oder hinter horizontal ausgebreiteten Schichtwolken, sondern gleichzeitig schieben sich - oft unter Donnergrollen - immer wieder mit großer Schnelligkeit Extrawolken vor ihr verlöschendes Gesicht und sorgen für farbliche Extranuancen. Außerdem steht dauernd der Regenbogen über der Szene und mischt sein berühmtes Farbspektrum ins Tohuwabohu.

Keine zwei Fotografen haben am Ende denselben Sonnenuntergang geschossen. Jede einzelne Aufnahme ist von schneidender Individualität. Die Differenz zwischen den diversen Schüssen ergibt sich weniger daraus, in welcher Untergangsminute auf den Auslöser gedrückt wurde, sondern vor allem daraus, wo der Fotograf gestanden bzw. gelegen hat. Wenige Meter Abstand voneinander entscheiden über Sieg oder Niederlage, funkelnde Farbpalette oder verregnete Finsternis. Erst wenn alles vorbei ist, löst sich die Spannung. Die Untergangsjäger spazieren dann gemeinsam in speziell für sie aufgestellte Bretterbuden, um sich entschlossen mit Bier vollzuschütten, um entweder zu triumphieren oder sich über erlittene Schlappen hinwegzutrösten.

Romantische Liebhaber von Sonnenuntergängen mögen daran Anstoß nehmen, aber bedenkt man es recht, so sind die "absurd schönen" Himmel-Hölle-Bilder von Vagator Beach und das wüste Treiben um sie herum durchaus keine Entartung menschlichen Sonnenkults, eher eine Rückkehr zu dessen ursprünglichen Intentionen. Romantisches Schwelgen in Sonnenuntergängen gibt es ja erst seit ideengeschichtlich ganz kurzer Zeit, es konnte erst entstehen, nachdem endgültig klar geworden war, daß das Verschwinden der Sonne nur scheinbar war, daß das Wort "Sonnenuntergang", wie die Lexika sagen, "ein sprachliches Relikt des überholten geozentrischen Weltbilds" ist.

Die Schwelger wissen nun (glauben auf Grund der Erkenntnisse der Astronomie unverbrüchlich zu wissen), daß "Sol", der gewaltige, lebenspendende Gott des Firmaments, am nächsten Morgen immer und immer wieder zurückkehrt. Und das macht sie sicher und zum reinen Genießen geeignet, vielleicht allzu sicher. Vielleicht ist es einfach leichtfertig, jene Urangst zu ignorieren, die die Menschheit jahrtausendelang umgetrieben hat: nämlich daß Sol sie eines Tages verlassen könnte und daß man nie ganz sicher sein kann, ob der Sonnenuntergang, den man gerade erlebt, nicht doch der letzte gewesen ist.

Viele erhabene Mythen und Gebete zeugen von jener Urangst, so der ergreifende Sonnenhymnus Echnathons, so die Sage von Phaeton, der den Sonnenwagen in jugendlichem Übermut blindlings an die Wand fährt, so noch Goethes Verse am Anfang des "Faust": "Die Sonne tönt nach alter Weise / In Brudersphären Wettgesang, / Und ihre vorgeschriebne Reise / Vollendet sie mit Donnergang".

Die Reise der Sonne ist vorgeschrieben, gottseidank, sie hat sich mit den Brüdern des Alls abgesprochen und hält sich an die Absprachen. Aber jede einzelne Phase, also jeden Tag, den sie brüderlich bescheint, vollendet sie mit Donnergang. Jeder Sonnenuntergang ist ein Donner der Ungewißheit und der fatalen Möglichkeiten, wir hören ihn nur nicht. Die Untergangsjäger von Vagator Beach aber hören ihn, bildlich und oft sogar auch wirklich. Das Bierchen danach ist ihnen zu gönnen.

Foto: Sonnenuntergang über der Ostsee und der Seebrücke von Heringsdorf auf der Insel Usedom: Gigantische Flakscheinwerfer


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