© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/05 29. Juli / 05. August 2005

Nicht nur in der Epoche geirrt
Außenpolitik: Unter einer Kanzlerin Merkel soll Deutschland vor allem ein Partner der USA sein / Paris bleibt aber wichtig
Alain de Benoist

Vor ihrem "Arbeitsbesuch" am 19. Juli, in dessen Verlauf sie in Paris mit Staatspräsident Jacques Chirac, Regierungschef Dominique de Villepin und dem Innenminister und Vorsitzendem der bürgerlichen Regierungspartei UMP Nicolas Sarkozy zusammentraf, war Angela Merkel in Frankreich so gut wie unbekannt.

Einige Kommentatoren entblödeten sich nicht, auf ihr unvorteilhaftes Äußeres Bezug zu nehmen: Eine Zeitung bescheinigte ihr ein "depressives" Gebaren, eine andere einen "Kopf wie ein Alkoholiker"! Seriösere Berichterstatter nahmen ihren Besuch zum Anlaß, Überlegungen bezüglich ihrer Absichten für den sehr wahrscheinlichen Fall anzustellen, daß sie im Herbst zur deutschen Bundeskanzlerin gewählt wird.

Tatsächlich hat die CDU-Chefin während ihres Paris-Aufenthalts nichts Aufsehenerregendes von sich gegeben. Das hat einer ihrer engsten Berater, der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Friedbert Pflüger (CDU), an ihrer Stelle besorgt - in einem Artikel, der am Tag vor Merkels Besuch im konservativen Le Figaro erschien.

Dort bekundete Pflüger zunächst, die deutsch-französische Freundschaft werde "für eine von Merkel geführte Bundesregierung besondere Priorität haben". Frankreich und Deutschland "müssen wieder die Rolle des europäischen Motors zurückgewinnen". Die "von der Regierung Schröder geschmiedete Achse Paris-Berlin-Moskau" werde jedoch "in Zukunft nicht beibehalten", da sie "Europa zu spalten" drohe. Die Europäische Union, so Pflüger, "muß ein Partner der USA sein, nicht jedoch ein Gegengewicht".

Derlei unmißverständliche Verlautbarungen hätte Pflüger, der immerhin als zukünftiger Außenminister oder Staatssekretär im Gespräch ist, kaum ohne vorherige Absprache mit Merkel abgegeben. Man muß sich also auf einen Kurswechsel in der deutschen Außenpolitik gefaßt machen. Die Berliner Welt titelte prompt: "Bricht die Achse Paris-Berlin-Moskau?"

Allerdings irrt sich Pflüger, wenn er den Gedanken einer solchen Achse für ein alleiniges Produkt der Schröderschen Politik hält. Zu Zeiten, als sich der EU-Kommissar Pascal Lamy und der heutige französische Ministerpräsident de Villepin für die Gründung eines "deutsch-französischen Bundes" als Basis für ein "Kerneuropa" aussprachen, das zum politischen Motor des gesamten Kontinents werden sollte, fanden sie damit bei Unionspolitikern wie Edmund Stoiber, Wolfgang Schäuble und Karl Lamers Unterstützung.

Pflüger beging jedoch zwei weitere schwere Fehler. Der erste besteht in der Vorstellung, eine Annäherung an Washington wäre geeignet, die Kritik gewisser "kleiner" EU-Mitgliedstaaten an dem französisch-deutschen "Direktorium" zu beschwichtigen. In Wirklichkeit nehmen diese Kritiker vor allem an der unabänderlichen Tatsache Anstoß, daß Frankreich und Deutschland mit insgesamt 142 Millionen Einwohnern und einem Anteil von 41 Prozent am europäischen Haushalt in der EU das meiste Gewicht haben.

Eigenständige europäische Politik in multipolarer Welt

Sicherlich sind einige unter den neuen EU-Mitgliedern keineswegs aus Begeisterung für die politischen Ziele der "Gründerväter" des Europa-Gedankens beigetreten, sondern um ins "westliche" Lager unter dem Schutz Washingtons aufgenommen zu werden. Langfristig wird ihnen diese Illusion wohl genommen werden. Doch gerade weil sie für das politische Projekt Europa momentan noch nicht reif sind, darf man ihnen nicht den Eindruck vermitteln, der Aufbau einer eigenständigen europäischen Politik in einer multipolaren Welt sei nichts als eine Schimäre.

Ganz im Gegenteil ist dies für Frankreich und Deutschland der Augenblick, in dem sie ihre Befähigung unter Beweis stellen müssen, die gemeinsamen Projekte voranzutreiben, um anderen Staaten vorzuführen, daß ihnen eine Beteiligung daran nur Vorteile brächte.

Pflügers zweiter Irrtum liegt darin zu glauben, das Verhältnis zwischen Europa und den USA hänge ausschließlich von dem guten Willen der Europäer ab. Indem sie sich immer offener zum Unilateralismus nach dem Motto "Divide et impera"-Prinzip bekennen, haben die USA ihrerseits den Graben zwischen den beiden Kontinenten verbreitert. Sie wissen nämlich genau, daß deren Interessen aus politischen, geopolitischen und vor allem wirtschaftlichen Gründen künftig weiter und weiter auseinanderklaffen werden.

Wie schon das Echelon-Abhörnetzwerk (an dem nur die USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland beteiligt sind) oder die verheerenden Praktiken des Nationalen Sicherheitsrates der USA in Fragen des Völkerrechts und der Krisenbewältigung zeigen, haben die Amerikaner nicht mehr dieselben Werte wie die Europäer und denken anders als sie.

Pflüger preist die Stärkung eines deutsch-französischen Bündnisses "à la Metternich" - in ähnlicher Manier entleerte der Bundestag 1963 den von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer geschlossenen Élysée-Vertrag durch eine "atlantistische" Präambel jeglichen Inhalts. Daß Deutschland heute endlich eine seinen eigenen Interessen dienende Außenpolitik formulieren kann, sich also nicht mehr als Vasall zu benehmen braucht, vergißt der CDU-Mann Pflüger dabei. Somit hat er sich nicht zuletzt in der Epoche geirrt. Die Berliner Mauer ist offensichtlich noch nicht in allen Köpfen gefallen.


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