© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/05 29. Juli / 05. August 2005

Ankaras Dilemma
Türkei: Die jüngsten Bombenanschläge offenbaren, daß die Kurdenfrage weiter ungelöst ist
Günther Deschner

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan drohte dieser Tage erneut mit dem Einmarsch in den kurdischen Nordirak (JF 30/05), wo die PKK (Partiya Karkerên Kurdistan/Arbeiterpartei Kurdistans) ihre Basen hat. Der Auslöser für die Drohung aus Ankara ist das Wiederaufflackern des bewaffneten kurdischen Widerstands in der Türkei: Anschläge auf Bahnstrecken, Überfälle auf Polizeiposten und türkische Militärstreifen, verminte Verbindungsstraßen und nun in der Region Hakkari der Abschuß eines Militär-Hubschraubers. Allein im Juli starben 16 türkische Soldaten.

Das sind empfindliche Nadelstiche, doch sind sie weit entfernt von der Dimension und der Brutalität des kurdisch-türkischen Bürgerkriegs der Jahre 1984 bis 1998, der 37.000 Menschen - meist Kurden - das Leben kostete und mit der Verhaftung und Verurteilung von PKK-Chef Abdullah Öcalan und der offiziellen Umbenennung der PKK in Kadek (Kongreya Azadî û Demokrasiya Kurdistanê/Freiheits- und Demokratiekongreß Kurdistans) 1999 ein Ende zu haben schien.

Neu sind diesmal zusätzlich Sprengstoffattentate in Touristenzentren in der Südtürkei. Zu einem dieser Anschläge hat sich eine bis dahin unbekannte radikale Splittergruppe namens "Freiheitsfalken Kurdistans" bekannt, der Ankara Verbindungen zur PKK nachsagt. Einer der ranghöchsten Feldkommandeure des militärischen Arms der PKK, Zubeyir Aydar, verurteilte am Samstag in einer von AFP verbreiteten Stellungnahme die Attentate in Touristengebieten und verneinte jeden Zusammenhang mit seiner Organisation.

Doch Ankara wird zusehends nervös: Es geht schon längst um mehr als nur um die innere Sicherheit im anatolischen Südosten, nämlich auch um den einträglichsten Wirtschaftssektor des Landes, den Tourismus. Er entwickelt sich sprunghaft nach oben. Umgerechnet 14 Milliarden Euro wurden letztes Jahr eingenommen, 24 Milliarden erwartet man für 2005. Einbußen in diesem Sektor würden die türkische Wirtschaft empfindlich treffen.

Und es geht darum, daß die türkische Führung mit wachsender Beklemmung registriert, wie sich im Irak eine weitgehend unabhängige "Autonome Region Kurdistan" konsolidiert. Die dort entstehende Verwirklichung des kurdischen Traums ist von leuchtender Strahlkraft für die Millionen unterdrückter Kurden im Iran und in Syrien. Vor allem auf die zirka 15 Millionen Kurden der Türkei ist sie von verlockender Faszination.

Daß Ankara sich etwas einfallen lassen muß, liegt auf der Hand. Aber was? In Ankara fehlen offenkundig Ideen für eine über das rein Militärische hinausgehende politische Lösung des eigenen, drängenden Kurdenproblems. Die meisten Repräsentanten der politischen und militärischen Elite der Türkei wirken in dieser Frage so ratlos und unbeweglich wie in der zu Ende gehenden Sowjetära die Betonköpfe der kommunistischen Parteien.

Ein schönes Beispiel dafür, daß es Ankara wohl um mehr geht als um die Eindämmung der Nadelstiche der PKK, haben jüngst Außenminister Abdullah Gül und der im Generalstab tonangebende General Ilker Basbug geliefert, als sie erklärten, die Türkei werde das Ergebnis der zum Jahresende anstehenden Wahlen für die nordirakische Ölstadt Kirkuk ("das kurdische Jerusalem") nicht akzeptieren, wenn es zu einer kurdischen Mehrheit führte.

Eine Einbeziehung Kirkuks in die Autonome Region Kurdistan "als weiterer Schritt zu einem eigenen Kurdenstaat" würde von der Türkei nicht hingenommen werden und, so Basbug, "endgültiger" Anlaß sein für eine militärische Intervention.

Als größte Militärmacht des nahöstlichen Raumes ist die Türkei natürlich zu einem Militärschlag im Nordirak jederzeit in der Lage. Türkische Truppen haben längst zur Grenze aufgeschlossen, und es gibt fertige Pläne für eine Operation mit bis zu 40.000 Mann.

Die Situation ist nicht neu: Schon im vergangenen Jahr war mehrfach eine solche Operation im Gespräch, dann wurde der Februar genannt und dann der Mai. Doch es blieb jedesmal beim Säbelrasseln. Zwar werden im Grenzgebiet immer wieder kurdische Partisanen von türkischen Jagdkommandos auch bis auf irakisches Territorium verfolgt, doch vor einer militärischen Großoperation schreckte man bislang zurück.

Premier Erdogan ist vielleicht zu klug für solche Abenteuer, die das Dilemma, vor dem die türkische Politik steht, nur noch verschlimmern würden: Mißtrauisch beobachtet von der EU, kann sich Ankara keine militärischen Eskapaden leisten. Auch im Irak sind die Dinge schon längst nicht mehr so wie zu den Zeiten eines ohnmächtigen irakischen Präsidenten Saddam Hussein, der durch Embargo und internationale Überwachung alle Optionen verloren und im Norden des Irak nichts mehr zu sagen hatte.

Heute stellen sich die Verhältnisse anders dar. Massud Barsani und Dschalal Talabani, die Führer der Kurden im Nordirak, haben ihre Karten im US-amerikanischen Machtpoker um einen "neuen Irak" sehr klug ausgespielt. Ihr eigenes Militär, rund 80.000 hochmotivierter und inzwischen bis an die Zähne bewaffneter kurdischer "Pesch Merga", würde den türkischen Truppen einen Empfang nach Kurdenart bereiten. Niemand wird das wollen.

Und mit Talabani und Hoschia Sebari sind sowohl der Staatspräsident als der Außenminister des Irak führende Repräsentanten der kurdischen Autonomie. Jede Konfrontation zwischen der Türkei und den irakischen Kurden würde automatisch zu einem Krieg zwischen Ankara und Bagdad führen. Außenminister Sebari richtete vergangenen Sonntag eine deutliche Warnung an Ankara: "Wir werden uns jeder militärischen Einmischung in irakische Angelegenheiten widersetzen, gleichgültig von wo sie kommt."

Es ist offenkundig, daß eine militärische Invasion des Irak auch zur Konfrontation mit den USA und den arabischen Staaten führen könnte. Die Tage der ungetrübten "strategischen Partnerschaft" mit den USA sind längst vorbei. "Der Paradigmenwechsel im türkisch-amerikanischen Verhältnis", so schrieb Kemal Koprulu, einer der führenden außenpolitischen Vordenker in Ankara, in der jüngsten Ausgabe von Turkish Policy Quarterly, "zwingt die Türkei immer mehr dazu, ihre eigenen Probleme auch im eigenen Land zu lösen".


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