© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/05 29. Juli / 05. August 2005

Potentielle Spielverderber
Bundestagsauflösung: Nachdem der Bundespräsident das fingierte Mißtrauensvotum akzeptiert hat, ist das Verfassungsgericht am Zuge
Friedrich Karl Fromme

Bundespräsident Horst Köhler hat die 20 Tage, die er für die Prüfung des Antrags des Bundeskanzlers auf Auflösung des Bundestages, gestellt nach konstruiert "verlorener", eigentlich also gewonnener Vertrauensfrage im Bundestag benötigte, offensichtlich nicht zu tieferem Erkenntnisgewinn genutzt. Er hat, und das wiegt schwerer, die von ihm vielfach erwartete - er kommt nicht aus der Welt des parteipolitischen Karriere-Opportunismus - Unabhängigkeit nicht gezeigt. Die Aufzählung der Unzulänglichkeiten unserer politischen Lage trifft vieles Richtige. Aber es ist nichts darunter, was durch eine vorzeitige Bundestagswahl gemildert würde.

Kein Arbeitsloser wird unter einem neu gewählten Bundestag eine größere Chance auf einen Arbeitsplatz gewinnen. Die kritische Lage der Haushalte von Bund und Ländern erfährt durch die Wahlen keine Besserung. Die "bestehende föderale Ordnung ist überholt", sagte Köhler in seiner Fernsehansprache. Aber es ist nicht ersichtlich, was Wahlen jetzt und nicht erst übers Jahr bessern sollten. Der Bundesrat bleibt bis zu den nächsten Landtagswahlen unverändert, seine jetzt von der Union bestimmte Mehrheit wird sich nicht anders verhalten als bisher. Köhlers letzter, stärkster Trumpf war: "Wir haben zu wenig Kinder, und wir werden immer älter". Wird unter der Ägide eines im September diesen statt des nächsten Jahres gewählten Bundestages auch nur ein einziges Kind mehr geboren, wird auch nur ein Rentner früher aus den Empfängerlisten gestrichen werden können? Das Parteiensystem ändert sich. Eine sichere Mehrheit für Rot-Grün verliert an Wahrscheinlichkeit.

Das Grundgesetz hat im Jahre 1949 aus gutem Grund die Auflösung des Bundestages schwer gemacht. Den Mitgliedern des Parlamentarischen Rats stand vor Augen, daß in der Weimarer Republik jeder Reichstag ein vorzeitiges Ende fand. Es konnte ihm gesetzt werden vom Reichspräsidenten, der dafür Gegenzeichnung des Reichskanzlers brauchte, die er sich notfalls beschaffen konnte durch Entlassung des amtierenden und Ernennung eines zur Auflösung bereiten Kanzlers. 1930 gab es vorzeitige Reichstagswahlen - mit dem Ergebnis, daß die NSDAP von einer bedeutungslosen Gruppe auf 107 Abgeordnete anwuchs. Schon im Juli 1932 gab es wieder Wahlen mit der Folge, daß eine destruktive Mehrheit aus NSDAP und KPD entstand.

Die Folgerung, die im Grundgesetz daraus gezogen wurde, hieß: Nur wenn es im Parlament nicht mehr weiterging, sollte der Bundeskanzler den Mechanismus in Gang setzen, dessen Bedingung jetzt erkünstelt wurde. Die Vertrauensfrage wurde allein zum Zweck des Erreichens der Ablehnung gestellt; Mißtrauen also als verquere Form des besonderen Vertrauens.

Bundespräsidenten Köhler hat sich auf dieses Spiel eingelassen. Es hat mit der Verfassung nichts zu tun. Sie zu wahren, liegt nun in den Händen der acht Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, voran des Richters Udo Di Fabio, der für das Sachgebiet Berichterstatter ist. Der Senat wird nicht verfehlen, sein Urteil vom 16. Februar 1983 genau nachzulesen. Es war ergangen, nachdem einige Abgeordnete wegen der vorzeitigen Auflösung des Bundestages durch den frisch ins Amt gelangten CDU-Kanzler Helmut Kohl das Gericht angerufen hatten.

Nach schweren Bedenken, die nach außen sichtbar zu machen der damalige Bundespräsident Karl Carstens (CDU) sich nicht versagte, erließ das Gericht ein Urteil, aus dessen Windungsreichtum zu erkennen war, daß hier ein Kernstück der Verfassung durch opportunistischen Gebrauch in einer Situation, für die die Verfassung nicht gemacht war, verbogen worden war. Diesmal noch, aber dann nimmermehr, auf diese Märchenformel läßt sich das Urteil von 1983 bringen.

Gewiß: die Regierung ist in einer schwierigen Lage. Aber nach der Verfassung ist das kein Auflösungsgrund. Die Bundesregierung ist sich des stetigen Vertrauens ihrer Bundestagsmehrheit nicht mehr sicher. So steht es im Urteil, aber es ist die Frage, wie "sicher" eine Regierung ihrer Mehrheit, die sie doch kontrollieren, also einen eigenen Kopf haben soll, überhaupt sein darf. Daß eine Regierung nicht alle Gesetzentwürfe ohne Rest durchs Parlament bringen kann, gehört zum parlamentarischen System. Noch jede bisherige Regierung hat es immer wieder mit einigen unsicheren Kantonisten zu tun gehabt. Parlamentsfraktionen sind keine für die Exekutive jederzeit verfügbaren Stimmblöcke.

Als sei es dem Kanzler und dem SPD-Vorsitzenden Müntefering nicht einmal darauf angekommen, den Schein zu wahren, so inszenierten sie ihr tändelndes Spiel mit der Verfassung. Man gönnte der getürkten Vertrauensabstimmung nicht einmal einen eigenen Beratungstag. Vielmehr verabschiedete die rot-grüne Koalition erst drei Dutzend Gesetze. Dann wurde aufgerufen der Tagesordnungspunkt, der ehrlicherweise hätte heißen müssen: "Organisierte Versagung des Vertrauens gegenüber dem Bundeskanzler Gerhard Schröder". Und gleich nach dem Schauspiel "Vertrauen durch Versagung des Vertrauens" folgte die Versicherung des SPD-Fraktions- und Parteivorsitzenden Müntefering, daß "der Gerd Schröder" selbstverständlich "unser Vertrauen" habe.

Horst Köhler, leider doch mehr ein Parteimann, als es nach seiner Wahl zu hoffen war, willfahrte. Vielleicht ist er so sehr Ökonom, daß er den freiheitsstiftenden Sinn von zu beachtenden und beachteten Ordnungsregeln nicht zu erkennen vermag. Er fügte sich dem Satz "alle wollen die Wahlen", der doch nach dem Urteil von 1983 ohne Belang zu sein hat.

Für das Bundesverfassungsgericht, dessen Aufgabe die Wahrung der Grundordnung namens Verfassung ist, kann dies schon gar keine Rolle spielen. Verfehlt ist die gelegentlich aufgestellte Behauptung, nachdem Kanzler, Bundestag und Bundespräsident für die Auflösung seien, müsse das Gericht sich anschließen. Verkehrt ist auch die als Druckmittel gegenüber dem Gericht eingesetzte Behauptung vom Rücktritt des Bundespräsidenten, der nötig sei, wenn das Gericht ihn nicht bestätigt. Es geht um eine verfassungsrechtliche Streitfrage. Wenn das zu ihrer Beantwortung berufene Organ, das Bundesverfassungsgericht, zu einer bestimmten, begründeten Ansicht kommt, hat niemand "das Gesicht verloren". Auch ein Hausherr, der einen Mietprozeß verloren hat, muß nicht das Haus anzünden.

In einer gedächtnislosen Zeit wie der unseren kann es nützlich sein, sich auf die Vergangenheit zu besinnen, zum Beispiel die Rede nachzulesen, die der frühere Bundeskanzler Willy Brandt, heute wie eine Ikone verehrter Ahnherr der SPD, am 17. Dezember 1982 zur damals von Helmut Kohl auf die gleiche Weise betriebenen Auflösung des Bundestages gehalten hat. Wenn das Schule mache, komme ein Instrument in die Verfassung hinein, das nicht hineingehört: das "Recht" des Bundeskanzlers, zu einem von ihm bestimmten Zeitpunkt Neuwahlen herbeizuführen. Das wollte das Grundgesetz nicht, und dabei sollte es bleiben. Der gerade Weg, eine Selbstauflösung des Bundestags, ist zweimal vorgeschlagen und abgelehnt worden.

 

Dr. Friedrich Karl Fromme war von 1964 bis 1997 Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", ab 1974 als Leiter Innenpolitik.


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