© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/05 15. Juli 2005

Macht und Kontrolle über die historische Wahrheit
Die Historikerin Astrid Eckert beschreibt in ihrer Dissertation den Kampf um deutsches Aktenmaterial in alliierten Beständen
Stefan Scheil

Was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt. Dies ist eine jedem Historiker bekannte Weisheit, die in bewegten Zeiten einen unerwartet frischen Wahrheitsgehalt bekommen kann. Wenn aus den Akten die Welt konstruiert wird, kann der Verwalter mittels geschickter Herausgabepolitik ihr Aussehen mitbestimmen. Solche Fragen stellt sich in kleinem Rahmen jede Behörde, ganz besonders aber stellen sie sich Sieger und Verlierer nach einem Krieg.

Als sich abzeichnete, es würde in absehbarer Zeit mit einer Niederlage Deutschlands zu rechnen sein, trafen die künftigen Siegermächte frühzeitig Vorkehrungen, was deutschen Akten aller Art zu geschehen habe. Das erste Abkommen über diese Fragen datiert von 1943. Astrid Eckert widmet den Anstrengungen der Westmächte auf diesem Gebiet ihre Doktorarbeit. Die Ausklammerung der damals formal verbündeten Sowjetunion aus der Darstellung ist gerechtfertigt, denn die deutschen Akten wurden nicht nur zur Festschreibung dessen beschlagnahmt, was in Deutschland vor und während der Kriegsjahre passiert sei. Sie dienten auch als Kampfmittel in der kommenden Auseinandersetzung mit der UdSSR und ihren Trabanten. Mit Hochdruck wurden im Juni 1945 mehr als vierhundert Tonnen im Harz gefundener Akten aus der künftigen sowjetischen Zone herausgebracht, dazu Edelmetalle und Kunstschätze.

Für das Erreichen einer nach alliierten Vorstellungen akzentuierten Geschichtsschreibung mußte die Alleinverfügung über deutsche Akten von unschätzbarem Wert sein. Zu den dahinterstehenden Überlegungen gehörte es, die Dokumente seien unter Verschluß zu halten, weil sonst die "Achse gerechtfertigt werden" oder "Verschwörungen der Vereinten Nationen aufgedeckt" werden könnten. Dies steigerte sich bis zum Versuch, einzelne Aktenbände über das britische Königshaus ganz zu vernichten.

Ein immer wieder genannter Hauptgrund für den alliierten Wunsch nach totaler Kontrolle über die deutschen Archive fand sich zudem in der unangenehmen Erinnerung an die Jahre nach 1919. Damals trug die deutsche Regierung mit ihren Veröffentlichungen in der Debatte um den Kriegsschuldparagraphen des Versailler Vertrags einen Sieg davon, der in der Weltöffentlichkeit ein schlechtes Gewissen gegenüber den ungerecht behandelten Deutschen schuf. Die vom Auswärtigen Amt initiierte Edition von Dokumenten der "Großen Politik der europäischen Kabinette" lag den Alliierten noch zwanzig Jahre später so im Magen, daß die Suche nach inhaltlichen Fehlern in ihr 1945 ein eigenes Motiv für die Beschlagnahme von Akten bildete, wie Eckert zeigt. Ähnliches durfte sich aus alliierter Sicht nicht wiederholen.

Die nach dem Zweiten Weltkrieg hergestellte Serie der "Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik" wurde schließlich eingedenk der Nach-Versailler Schlappe mit der "Großen Politik" als Projekt unter Ausschluß deutscher Beteiligung angelegt und lange Jahre ebenso durchgeführt. Proteste der Bundesregierung änderten daran nichts, wobei sich besonders die englische Seite äußerst widerspenstig gegen jeden Kompromiß zeigte. Statt deutscher Historiker agierten im wissenschaftlichen Beirat Männer wie William Medlicott, dem die englische Regierung zuvor die Selbstdarstellung der eigenen Blockadepolitik gegen den europäischen Kontinent anvertraut hatte. An seiner Seite fanden sich alte Bekannte aus den Kriegszeiten wie Lewis Namier, der extrovertiert deutschfeindliche Anhänger Lord Vansittarts. Bei der Durchsicht der Akten fehlte auch ein Routinier der Desinformation wie Ivone Kirkpatrick nicht, der wesentlichen Anteil am Heß-Flug von 1941 und der erfolgreichen Verwischung von dessen Hintergründen gehabt hatte. Vor diesem Hintergrund sah Bundeskanzler Adenauer seinerseits Grund, die alliierte Beschlagnahmepraxis als völlig illegal zu kennzeichnen und die bedingungslose Rückgabe allen Materials zu verlangen. Es gab jedoch weder für den Kanzler noch für seine Nachfolger ein Mittel, dies zu erzwingen.

An dieser Stelle zeigt sich die Autorin dem Zeitgeist verpflichtet und findet für diese von den bedeutenden deutschen Historikern damals unterstützte Position Adenauers wenig Verständnis. Es wäre ihre eigene Dissertation auch kaum vom deutschen Historikertag 2004 besonders ausgezeichnet worden, enthielte sie neben ungemein wertvoller Recherche nicht einen gehörigen Anteil der moralisierenden Worthülsen unserer Tage. So attestiert Eckert den Deutschen der frühen Bundesrepublik fehlende "Sensibilität" und lenkt unter dem Einsatz dieser Allerweltswaffe dann von den rechtlichen Kriterien ab. Wolfgang Mommsens treffende Bemerkung, es habe im Rußlandfeldzug "keinen ausgesprochenen Kulturraub gegeben" und die UdSSR hätte als Nichtunterzeichnerin den Schutz der Haager Konvention ohnehin nicht in Anspruch nehmen können, bringt sie zu einem typischen Gedanken: Es sei vor dem Hintergrund solcher "windigen" Argumente nicht nur eine völkerrechtliche, sondern zugleich eine "moralische Frage" gewesen, ob Deutschland das Recht hatte, seine Archivalien zurückzufordern. Moral kann durchaus zu konkreten Fragen führen, insbesondere dort, wo sie zur Doppelmoral wird. 1989 fanden sich amerikanische Geheimdienste immer noch ermächtigt, über den frischen Diebstahl der Rosenholz-Dateien bedeutenden Einfluß auf die Geschichtsschreibung und Analyse der DDR-Vergangenheit zu erreichen. Eckert erwähnt dies, aber das weniger moralische als vielmehr politische Kalkül hinter diesen Aktionen wie hinter der Beschlagnahme nach 1945 deckt sie nicht auf.

Die teilweise Rückgewinnung der Dokumente und die partielle Öffnung alliierter Archive können als Teile des politischen Emanzipationsprozesses der Bundesrepublik gelten. Es zeigt sich, wie weit dieser Prozeß von seinem Abschluß noch entfernt ist. "Selbst in London" war man nach langem Bitten und ungezählten Briefen bereit, für Eckerts Dissertation Teile des angeforderten Materials zur Verfügung zu stellen, schreibt die Autorin nicht ohne Stolz. Sie bedankt sich dafür und nimmt es mit Humor. Dann müsse man wenigstens nicht bei allen Dokumenten bis 2054 warten, schreibt sie. Etwas humorloser betrachtet läßt sich feststellen, daß der Kampf um die Akten noch lange nicht vorbei ist.

Astrid Eckert: Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von deutschem Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2004, 534 Seiten, gebunden, 68 Euro


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