© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/05 15. Juli 2005

Europäischer Haftbefehl auf dem Prüfstand
Rechtspolitik: Bundesverfassungsgericht entscheidet über Abschiebung eines deutschen Staatsbürgers / Weitreichende Folgen erwartet
Georg Pfeiffer

Nach dem vorläufigen Scheitern der EU-Verfassung und der Haushaltsverhandlungen auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Brüssel könnte in der kommenden Woche eine dritte große Woge auf die Europäische Union zurollen. Am kommenden Montag wird das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde des deutschen Staatsangehörigen syrischer Abstammung Mamoun Darkazanli verkünden (JF 5/05).

Die Verfassungsbeschwerde betrifft den ersten Anwendungsfall, in dem ein deutscher Staatsangehöriger aufgrund des Europäischen Haftbefehls an das Ausland, konkret an das Königsreich Spanien, ausgeliefert werden sollte. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Auslieferung im letzten Moment durch eine einstweilige Anordnung gestoppt. Am Montag wird es nun die Entscheidung in der Hauptsache bekanntgeben.

Bedenken gegen den Europäischen Haftbefehl bestehen unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten. Mit ihm wird der Kreis des für den einzelnen geltenden materiellen Strafrechts auf unübersehbare Weise erweitert. Er kann, etwa wenn er im Internet publiziert, nach Gesetzen verfolgt werden, die er nicht kennt, weil sie nicht in seinem Heimatland, wohl aber in irgendeinem anderen Land der Europäischen Union gelten. Das war auch vor Einführung des Europäischen Haftbefehls so, allerdings war er durch die strengen Prüfungen des Auslieferungsverfahrens, etwa auf Vorliegen der "gegenseitigen Strafbarkeit" geschützt. Genau dieser Schutz wurde durch das neue Auslieferungsverfahren abgeschafft. Bedenken bestehen zudem gegen die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens. Die Vorstellungen über die Merkmale eines gerechtes Verfahrens, über die Anforderungen an einen Beweis und über die Verteidungsrechte variieren innerhalb der Europäischen Union recht stark. In manchen Ländern gibt es beispielsweise ein Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten. Auch die Vorstellungen über die zulässigen Mittel zur Aussageerlangung unterscheiden sich, ebenso die über Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte. Auch unabhängig von diesen Bedenken ist der Beschuldigte bei einem Verfahren im Ausland aufgrund etwa fehlender Sprach- und Rechtskenntnisse faktisch schlechtergestellt. Dieser Nachteil kann auch durch die Stellung eines Anwaltes und eines Dolmetschers nicht ausgeglichen werden. Zwischenzeitlich sind weitere Details bekanntgeworden, die Befürchtungen bestätigen, die noch vor einem halben Jahr kaum jemand zu äußern wagte. Das hat sich geändert: Gegen Mamoun Darkazanli hatte schon der Generalbundesanwalt wegen des Verdachts einer Beteiligung an Terroranschlägen ermittelt, ohne jedoch hinreichende Beweise zu finden. Er suchte deshalb nach Ausschreibungen gegen den Beschuldigten im Schengener Informationssystem und regte von sich aus die spanischen Kollegen zur Erwirkung eines Europäischen Haftbefehls an. Dies geschah in der Annahme, daß die rechtlichen Hürden für eine Aburteilung des Verdächtigen dort niedriger seien. Damit ist das Prinzip des gesetzlichen Richters ausgehebelt. Dieses Prinzip, nachdem jedermann Anspruch darauf hat, daß im voraus nach allgemeinen Merkmalen bestimmt wird, von welchem Gericht und Richter sein Fall verhandelt wird, ist eines der tragenden Grundprinzipien des rechtsstaatlichen Verfahrens. Man darf die Aushebelung dieses Grundsatzes ruhig als den größten anzunehmenden Unfall, den GAU der rechtsstaatlichen Strafverfolgung bezeichnen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Sache am 13. und 14. April zwei Tage lang mündlich verhandelt. Das ist ungewöhnlich. Dabei warf es einen sehr genauen Blick auf das europäische Rechtsetzungsverfahren und sprach von Integrationsgrenzen, von Harmonisierungsdruck und einer schrittweisen Entstaatlichung durch Übertragung von Kernkompetenzen. Bislang hatte es in der berühmten "Solange II-Entscheidung" von 1986 seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht - darum handelt es sich beim Europäischen Haftbefehl - selbst beschränkt. Solange die Europäische Gemeinschaft den Grundrechtsschutz gewährleiste, werde es europäische Normen nicht mehr am deutschen Grundgesetz messen. Wenn es diese Selbstbeschränkung aufgibt, etwa weil die EU den Wesensgehalt der Grundrechte nicht mehr generell verbürgt, dann geht die Bedeutung der Entscheidung über die konkrete Frage des Europäischen Haftbefehls weit hinaus. Ein solches Diktum dürfte das europäische Gefüge weit schwerer erschüttern als die beiden vorangegangenen Wellen zusammen.


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