© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/05 15. Juli 2005

Kolumne
Srebrenica und Nemmersdorf
Rolf Stolz

Das Schöne am Schlechten ist, daß man die eigene Verkommenheit in einem unbewußt ausleben und beharrlich ableugnen kann. Es macht Spaß, sich moralisch überlegen zu fühlen und so mies wie eben möglich zu sein. Aber am meisten steigert es den Lustgewinn, wenn einer gleichzeitig ein Schwein sein und sich als Saubermann präsentieren kann.

Dieser Leitlinie folgen jene Deutschen, die sich zu Recht empören über serbische Kriegsverbrechen an bosnischen Muslimen, die Bestrafung der Täter, ein Schuldeingeständnis und Sühne verlangen, sich aber weigern, gleiche Maßstäbe anzulegen an Polen, Tschechen und Russen. Sie sind begeistert, wenn der tschechische Staat den Staatsverbrecher Benesch feiert, wenn in Polen weiterhin offiziell die Lügen von notwendiger, humaner, friedensstiftender "Umsiedlung" gepredigt werden, wenn Rußland an Stalins Mordkumpan Kalinin als Namenspatron festhält.

Ohne Zweifel ist den Serben in ihrer Geschichte Unrecht geschehen von den türkischen Invasoren und der Islam ist als Religion der Besatzer und Unterdrücker auf den Balkan gelangt. Dennoch wird Srebrenica dadurch genausowenig gerechtfertigt wie die Verbrechen an Deutschen in Nemmersdorf, Lamsdorf oder Brünn "erklärt" oder "verständlich" bis "selbstverständlich" werden durch deutsches Unrecht im Osten Europas. Erst unter Hitler und auch damals nur in eng begrenztem Umfang sind Polen oder Tschechen von Deutschen aus ihrer Heimat vertrieben worden. War schon die Vertreibung von weit mehr als zehn Millionen Deutschen aus dem östlichen Europa an sich ein Menschheitsverbrechen, so muß daran erinnert werden, daß dieser Aktion zur Vernichtung alles Deutschen jenseits der Oder über zwei Millionen Menschen zum Opfer fielen. Der deutsche Bundestag hat in dieser Sache 1994 alles Nötige gesagt, noch dazu einstimmig - auch wenn es vordergründig nicht um das ging, was zwischen uns und unseren Nachbarn erst ausgeglichen sein wird, wenn Sühne und Wiedergutmachung Versöhnung ermöglichen. Der Bundestag erinnerte an die Notwendigkeit, über die "Durchsetzung des Rückkehrrechts in die Heimat hinaus Möglichkeiten zu prüfen, wie Wiedergutmachungs- und Entschädigungsverpflichtungen der Vertreiber geregelt werden können" und hielt fest: "Die Staatengemeinschaft hat die Aufgabe, den Menschen zu helfen, deren ethnische, rassische, religiöse und kulturelle Zugehörigkeit mißbraucht wurde, um sie zu vertreiben. Vertreibung jeder Art ist international zu ächten und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ahnden."

 

Rolf Stolz ist Mitbegründer der Grünen und lebt als Publizist in Köln.


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