© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/05 08. Juli 2005

CD: Klassik
Flaschenpost
von Jens Knorr

Seine ersten Mahler-Eindrükke hat ihm der griechische Dirigent Dimitri Mitropoulos vermittelt, dessen Aufführung von Mahlers Sechster der junge Korrepetitor und Kapellmeister in Wien gehört hat. Das war vor der in den sechziger Jahren einsetzenden Mahler-Renaissance, als Bernstein, Kubelik, Haitink und Solti die ersten integralen Gesamtaufnahmen der Symphonien für die Schallplatte einspielten. Heute haben sich die Werke Gustav Mahlers im Konzertrepertoire durchgesetzt; Aufführungen auf Waldbühne oder Todesstreifen, der längst wieder Potsdamer Platz ist, tragen Eventcharakter. Alle Schwierigkeiten des Interpretierens und des Hörens scheinen wie weggeblasen. Die Diskographie ist unüberschaubar geworden, seit auch mittlere Orchester und Dirigenten früher oder später alle Neune und das Fragment der Zehnten durch- und eingespielt haben.

Wenn der Dirigent, Komponist und Zeitgenosse Michael Gielen eine weitere - seine - Deutung vorlegt, dann muß er dafür gute Gründe wissen, den gewichtigen Grund eingerechnet, daß Gustav Mahler sein Lieblingskomponist ist. Mit dem SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, dessen Chefdirigent er von 1986 bis 1999 war und dessen Ehrendirigent auf Lebenszeit er seit 2002 ist, kann sich Gielen den Luxus leisten, in ausreichender Probenzeit eine Partitur auseinanderzunehmen und sinnvoll wieder zusammenzusetzen und das Ergebnis auf Bändern zu dokumentieren - für die Mitwelt, aber wohl auch für die Nachwelt. Und welches Werk wäre geeigneter, ein solches "Legat" zu hinterlassen, als das Werk Mahlers, das mindestens ein Jahrhundert bürgerlicher Existenz in Klangbilder faßt, die bereits die Katastrophen des kommenden 20. Jahrhunderts vorwegnehmen?

Eine CD-Box der Reihe "swr music" enthält die Studioaufnahmen der neun Symphonien, die Gielen mit dem SWR-Sinfonieorchester zwischen 1988 und 2003 erarbeitet hat, die Dritte als Konzertmitschnitt von 1997, aus der Fragment gebliebenen Zehnten nur das Adagio, obwohl Gielen deren von Deryck Cooke erarbeitete "Aufführungsversion" inzwischen dirigiert hat. Gielens Aufnahmen der "Kindertotenlieder" und der Symphonie "Das Lied von der Erde", Mahlers heimlicher Neunter, fehlen ganz. (Hänssler Classic, CD 93.130)

Auf Mahlers richtige Neunte, die in D-Dur, läuft hier alles zu, es ist, als habe Gielen die acht Symphonien davor mit dem Wissen um diese Neunte neu gelesen. Deutlich und nachvollziehbar erscheint nicht nur in der Darstellung, was in ihnen bereits Neunte, sondern auch, was in ihnen noch nicht Neunte ist: wie das Prinzip der "entwickelnden Variation" den klassischen Sonatenhauptsatz aufhebt, die symphonische Form in immer komplexere Gebilde aufgeht, deren Elemente beständig vor- und zurück- und aufeinander verweisen - innerhalb eines musikalischen Satzes, von Satz zu Satz, von Symphonie zu Symphonie.

Dem steht nicht entgegen, daß Gielen die avancierten Mittelsätze der Zweiten, Fünften, Siebten als die Kraftzentren dieser Symphonien begreift, von denen her die Außensätze zu verstehen wären. So erst vermag beispielsweise das berühmt-berüchtigte Adagiet-to seinen Platz zwischen Scherzo und geschäftigem Finale der Fünften als musikalisch notwendig zu behaupten und wieder als das traumhaft vorüberwehende Intermezzo dirigiert zu werden, als das es gemeint war. Und so erst vermöchten die schönheits- und todestrunkenen, die gefühlvollen und gefühligen Momente in Mahlers Symphonik den Hörer im Innersten berühren, er weiß sie zwar unwiederbringlich verloren, aber in der Klage über den Verlust zugleich aufgehoben. Um so kostbarer die musikalischen Gesten der Erfüllung. Gielen läßt sie zu.


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