© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/05 08. Juli 2005

Pankraz,
die Wolkenschieber und der Lohn der Wunder

Wunder sind wie Wolken", sagt Lichtenberg, "man muß sie aus der Ferne sehen, wenn man an sie glauben soll. Aus nächster Nähe betrachtet, lösen sie sich in Dampf und Physik auf." An solchem Urteil ist zweifellos etwas dran. Aber die Distanz, die eine Sache erfordert, um ernst genommen zu werden, spricht nicht unbedingt gegen sie. Viele machtvolle Phänomene verlieren ihre Aura, ihre Würde und Poesie, sobald man sie aus nächster Nähe betrachtet, so beispielsweise sämtliche Herrschaftsformen, von der Monarchie bis zur Demokratie, so vielleicht sogar Liebe und Treue und das Leben insgesamt, das ja mehr ist als bloße Physik und Chemie.

Die vatikanischen Kongregationisten, die zur Zeit in Rom über die Seligsprechung von Papst Johannes Paul II. beraten, sind in einer heiklen Lage. Einerseits müssen sie unbedingt ein Wunder finden, das dem Verstorbenen zugeschrieben werden kann, weil es die Verfahrensregel nun einmal so vorschreibt. Zum anderen dürfen sie diesem Wunder nicht zu nahe treten, um seine Glaubhaftigkeit nicht zu beschädigen, müssen alles tun, damit es sich nicht schon beim ersten genaueren Nachsehen seitens hämischer Kirchengegner in Dampf und heiße Luft auflöst. Wie schafft man so etwas?

Die Schwierigkeit rührt keineswegs erst aus neueren, "aufgeklärten" Zeiten, wo die meisten partout nicht mehr an Wunder glauben wollen. Sie beschäftigte schon frühere Jahrhunderte und führte zu subtilen Gelehrtenstreiten, die wiederzuerinnern eventuell nützlich wäre. Schließlich hat es in der katholischen Kirche unter Johannes Paul II. geradezu eine Inflation in Heilig- und Seligsprechungen gegeben, und man darf sich fragen, ob damit nicht der schöne Wolken-Status der Wunder ein bißchen in Verruf geraten ist.

Der berühmte Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225-1274), der später selber zum Heiligen und Wundertäter erhoben wurde, einer der größten Wissenschaftler, auch Naturwissenschaftler, des Mittelalters, verharrte Zeit seines Lebens in größter Skepsis gegenüber jederlei "apriorischer", d.h. ohne Sinnenbezug gemachter Erkenntnis, und deshalb hatte er auch eine Aversion gegen den Wunderglauben. Gewiß, es gab die göttli­che, in der Schrift niedergelegte Offenbarung, die wunderbar genug war und an die natürlich auch Thomas glaubte. Aber in der tagtäglichen Lebenspraxis, auch in der Lebenspraxis von Aspiranten auf Heilig- und Seligsprechung, walte nun einmal, meinte er, eine durch und durch vernünftige, von Naturgesetzen wie moralischen Geboten struktu­rierte Ordnung, und Gott denke gar nicht daran, diese Ordnung alle nasenlang durch Wunder zu relativieren.

Wunder seien zwar möglich, räumte Thomas - etwas widerwillig - ein, doch sie seien eine ganz seltene, im Grunde unerhörte intermissio legis naturae, eine Unterbrechung des Naturgesetzes, die auf gar keinen Fall von inflationierenden Selig- und Heiligsprechungen herbeigezwungen werden könne. Prinzipiell lasse Gott den Naturgesetzen ihren Lauf, er sei wie ein altrömischer Praetor, für den der Rechtsgrundsatz galt: "Minima non curat praetor", um Kleinigkeiten kümmert sich der Praetor nicht.

Man könnte die Bedenken noch einen Zahn weiterdrehen mit dem Hinweis, daß die klassische Wundertäterei in der Moderne durch die Leistungen der angewandten Wissenschaften doch sehr ins Hintertreffen geraten ist und ihr nun vielerorts ein etwas provinzieller Winkel- und Dorfgeruch anhaftet. Viele Ereignisse, die zu Thomas' Zeiten als monumentale Wunder registriert worden wären, verstehen sich heute quasi von selbst: die Weltraumsegelei, spektakuläre Licht- und Toneffekte aller Art, sogar überraschende Heilungen von schwerer Krankheit.

Fast jeder Einzelfall ist mittlerweile "natürlich" erklärbar. Dagegen ist die Welt als Ganzes in den letzten Dezennien - ironischerweise just durch den Fortschritt der Wissenschaft - immer rätselhafter geworden. Es gibt keine "wissenschaftlich" vertretbare Gesamterklärung mehr, keine "Weltformel", die dem Glauben an das Wirken Gottes Paroli bieten könnte. Jeder Wissenschaftszweig für sich, inklusive der Mathematik, hat sich in unauflösbare Widersprüche, bloße Wahrscheinlichkeiten verstrickt, und daß trotzdem alles ordentlich funktioniert und Tag für Tag vor unseren Augen und Seelen ein grandioses Feuerwerk der Farben, eine gewaltige Symphonie der Töne abrollt, das ist das größte aller nur vorstellbaren Wunder.

Freilich fühlt sich kaum jemand durch ein solches allgemeines Wunder persönlich herausgefordert; "wirkliche" Wunder indessen leisten genau dies: sie fordern den einzelnen heraus, sie widerfahren "mir", sie werden "an mir" verübt. Nicht die Unterbrechung des Naturgesetzes als solche ist nach populärer, typisch menschlicher Auffassung göttliches Wunder, sondern daß "ich selbst" in diesen unerhörten Prozeß einbezogen werde, ja, daß der Prozeß speziell "für mich" eingeleitet wurde - und zum Heil geführt hat. Jeder Blick auf die Dankzettel an wundertätigen Orten beweist, daß es nie um das Wunder "an sich", immer nur um das Wunder "für mich" geht.

Damit erklärt und rechtfertigt sich auch die katholische Wunder-Zuordnung bei den Heilig- und Seligsprechungen. Spezielle Wundertaten erfordern spezielle Wundertäter. Minima non curat praetor. Also müssen die Heiligen und Seligen ran. Man kann ihnen vertrauen, haben sie doch schon zu Lebzeiten durch ihre heroischen Tugenden hinreichend Zeugnis von ihrer Fähigkeit zur Heilspendung gegeben.

Es entsteht so eine Art Polytheismus auf den unteren, populären Glaubensetagen. Das ist nichts weniger als verächtlich, nicht einmal drollig, es ist vielmehr interessant und für jedermann erquickend. Die Erquickung steigert sich noch, wenn die Neugier Distanz hält zu jener Wolke namens Wunder, auf der sie wenig zu suchen hat.


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