© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/05 17. Juni 2005

Man darf sich nicht alles gefallen lassen
Angesichts des Ernstfalls bleibt jeder Mensch allein: Zum hundertsten Geburtstag des französischen Existentialisten Jean-Paul Sartre
Günter Zehm

Die schon seit längerem zu lesenden Pariser Erinnerungs-Aufsätze zum hundertsten Geburtstag Jean-Paul Sartres am 21. Juni klingen respektvoll, aber auch irgendwie gleichgültig, so als referiere man über Dinosaurier-Skelette im Naturmuseum. Diese Skelette sind sensationell und höchst ansehenswert, aber "zu sagen" haben sie einem nichts mehr. Man ist von ihnen nicht "existentiell betroffen". Und dasselbe gilt nun offenbar auch für das Werk Sartres, obwohl es doch einstmals ausdrücklich als "Existentialismus" angetreten war. Man könnte darüber melancholisch werden.

Über die Wirkung, die von Sartre in seiner Glanzzeit - den späten vierziger und den frühen fünfziger Jahren - ausging, vermögen sich Nachgeborene kaum noch einen Begriff zu machen. Er prägte das kulturelle Leben des Nachkriegs in Europa, bestimmte die Themen der Debatten. Die katholische Kirche setzte seine Bücher auf den Index. Die Aufführung vieler seiner Stücke, so etwa des Folterstücks "Tote ohne Begräbnis", wurde massiv gestört, die Vorstellungen konnten nur unter Skandal und Tohuwabohu über die Bühne gehen. Viele junge Leute bekannten sich als "Existentialisten" und machten sich auf, Sartre in seinem Café Flore am Boulevard Saint Germain de Prés zu besuchen, ihn anzustarren und von ihm ein gutes Wort zu erlangen.

Es bildete sich um ihn herum eine Subkultur aus unmittelbaren Adepten, aus Sängern, Literaten, Nassauern. Er hatte eine Leibgarde, hatte Sekretäre, die selber bekannte Schriftsteller waren (Jean Cau), jedes seiner Worte wurde auf die Goldwaage gelegt und auf seine hermeneutische Bedeutung abgeklopft. Allmählich entwickelte sich in den Künstler- und Studentenvierteln von Paris ein regelrechter "Existentialistenlook", so wie es im achtzehnten Jahrhundert nach Erscheinen von Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werther" eine Werther-Mode gegeben hatte oder zeitweilig in den gehobenen Kreisen der DDR einen Brechtlook: Cäsarfrisur, Nickelbrille und Lederjacke. Auch der Existentialistenlook der fünfziger Jahre schrieb Lederjacke vor, dazu Schillerkragen, Baskenmütze und Gauloise im Mundwinkel.

Dennoch ist die Bewegung nie zur bloßen Masche verkommen. Dafür bürgte von vornherein Sartres intellektuelles Niveau. Die großen Zeitungs- und Rundfunkdebatten, die er damals mit Camus oder Rousset, mit Merleau-Ponty oder Gabriel Marcel führte, hatten - verglichen mit den späteren strukturalistischen oder "neu-philosophischen" Debatten oder gar mit den heutigen Talkrunden - außerordentliches Niveau und wußten das Publikum im Innersten zu packen.

Nach Sartre ist der Mensch "in die Situation geworfen"

Sartres existentialistisches Hauptwerk, "Das Sein und das Nichts" von 1943, verhehlte weder in der Methode noch in den Thesen seine Abkunft von Husserl und Heidegger, ging aber in der dramatischen Zuspitzung der Thesen weit über sie hinaus. Der Mensch als "Nichtung des Seins", zur absoluten Freiheit "verurteilt", in die Situation "geworfen" - natürlich war das keine Philosophie, die einem leicht rezipierbare Fingerzeige für die Bewältigung oder auch nur für die Erklärung der ganz normalen Lebenswelt geben konnte; indes, die normale Lebenswelt war eben zu der Zeit, als Sartre sein "L'Etre et le Néant" schrieb, weitge­hend dispensiert.

Es herrschten statt dessen Krieg und Nachkrieg, ungeheure Untergänge, Massentötungen sonder Zahl, es herrschte moralische Orientierungslosigkeit, es kam nur noch darauf an, "wer wen?" Der einzelne war laufend vor schwerste existentielle Entscheidungen gestellt, und niemand konnte wissen, ob sein "Entwurf" Aussicht auf Verwirklichung hatte oder nicht. In einer solchen "Situation" (ein Lieblingswort Sartres) kam der Existentialismus wie gerufen, bestätigte das Lebensgefühl jedes Kämpfers oder Erlei­ders diesseits und jenseits der Barrikaden.

Die Franzosen sahen in Sartre den Résistance-Ideologen par excellence, der ihr Lebensgefühl unter der deutschen Besatzung haarfein aufs Wort gebracht habe. Gleichzeitig hatte Sartre aber nach 1945 auch eine ungeheure Resonanz im geschlagenen Deutschland; die Auf­führung seines Stückes "Die Fliegen" unter Gründgens in Düssel­dorf war eine Riesensensation. In (West-)Berlin, das bald nachzog, genoß er in weiten Kreisen fortan "Kultstatus". Seine Ausstrahlung reichte weit in den sich formierenden Ostblock hinein und faszinierte viele junge Akademiker, obwohl (und gerade) weil seine Werke verboten waren und die Beschäftigung mit ihnen Sanktionen nach sich zog.

Es war damals keineswegs klar, ob der Kommunismus, der überall in Osteuropa durch Krieg und massive sowjetische Außeneinwirkung eta­bliert worden war, nicht auch in Frankreich (und Italien) zum ersten Mal siegen würde, und zwar durch freie Wahlen. Führende Schichten der Ge­sellschaft hatten sich mit den Deutschen arrangiert gehabt und standen nun desavouiert und auch dezimiert da; es hatte direkt nach 1945 schreckliche Rachemassaker gegeben. Das vorgaullistische Regime in Paris war unstabil und bei den Wählern nicht beliebt. Die kommunistische Partei dagegen war stark und stellte sich als einzige ehrliche Widerstandkraft während der Besatzungszeit dar. Vor allem unter den Intellektuellen hatte der Parti com­muniste (PC), viele Anhänger, und alles fragte sich, wie sich Sartre engagieren würde, ob und, wenn ja, wann er der Partei beitreten würde.

Sartre jedoch trat nicht bei, obwohl er selbstverständlich auch nichts mit den anderen Parteien, den Parteien der "salauds", der bürgerlichen Schweine, zu tun haben wollte. Er gründete sogar eine eigene Partei, den Rassemblement Démocratique Revo­lutionnaire, und kritisierte den Stalinismus, schrieb extra ein Stück zwar nicht gegen, aber über die Kommunisten, in dem er darstellte, daß die Partei keineswegs immer eine klare Linie verfolge, sondern zum Zwecke der Machterringung die toll­sten Bündnisse mit irgendwelchen Faschisten eingehe und anderer­seits gute Genossen, wenn sie sich den krassen Kurswechseln nicht fügten, gnadenlos über die Klinge springen lasse.

Es war drama­turgisch ein sehr gutes Stück, "Les mains sales", "Die schmutzi­gen Hände", und gerade das machte die Kommunisten wild, die nun gegen Sartre während der frühen fünfziger Jahre eine wahnwitzige Hetzkampagne entfachten. Der damalige Chef des sowjeti­schen Schriftstellerverbandes, Alexander Fadejew, nannte Sartre einen "Schreibmaschine schreibenden Schakal", und das war noch eine der gepflegteren Bezeichnungen; Stephan Hermlin in Ost-Berlin hat weit Schlimmeres gesagt.

Antibürgerliche Affekte bis zum Wahnwitz

Dabei war Sartres Verhältnis zum Kommunismus und zur Sowjetunion nichts weniger als ablehnend, auch zur Zeit der "Schmutzigen Hände" nicht. Der Sohn aus großbürgerlichem Hause (seine Mutter, Annemarie Schweitzer, stammte aus dem Elsaß und war eine Cousine Albert Schweitzers) hatte sich früh von seiner Klasse abgewandt und begrüßte in den Sowjets ihren Totengräber. Auf die Mutter fixiert und nach deren Wiederverheiratung mit einem Reeder sich als Ausgestoßener, als "idiot de la famille" fühlend, kultivierte er sein Leben lang einen spontanen, sich manchmal bis zum Wahnwitz steigernden antibürgerlichen Affekt und war also geradezu prädestiniert für die Rolle eines kommunistischen "fellow travellers". 1952 kam es dann auch tatsächlich zum offiziösen Übertritt ins "sozialistische Lager", nachdem Sartre in aller Form am kommunistischen "Weltfriedenskongreß" in Wien teilgenommen hatte.

Doch die Ehe mit den Kommunisten wurde nicht glücklich. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in Mitteldeutschland, die ungarische Revolution von 1956, der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei 1968 - alle diese Ereignisse trafen auf einen ganz und gar zerrissenen Sartre, dessen öffentliche Stellungnahmen hin und her schwankten und kräftig an seinem geistigen Prestige zehrten.

Nicht weniger unglücklich verliefen später seine Beziehungen zur "Generation des Mai", zur "undogmatischen", mit dem individuellen Terror liebäugelnden Linken und mit den "Befreiungsbewegungen" in den Ländern der Dritten Welt. In einem zweiten großen philosophischen Entwurf, der "Critique de la Raison dialectique" von 1960, hatte Sartre versucht, den dogmatischen Marxismus des Ostens maßvoll zu "existentialisieren" und in ihm Raum zu schaffen für anarchistische Taktiken. Es wurde ihm von keiner Seite gedankt, sowenig wie sein Eintreten für Algerien, Fidel Castro und Frantz Fanon. Als er während des Pariser Mai 1968 im "befreiten" Panthéon-Theater zu den aufrührerischen Studenten sprechen wollte, wurde er als "Graubärtchen" ausgelacht und ausgebuht. Die neue Jugend wollte nichts mehr wissen von Jean-Paul und seinem inkonsequent gewordenen Existentialismus.

Der geistige Abstieg begann. Der Mann verkaufte nun in den Pariser Straßen zusammen mit seiner Lebensgefährtin Simone de Beauvoir alberne Terroristen-Blättchen. Sein spektakulärer Besuch bei Andreas Baader im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim war nur noch eine schmähliche Farce. Im Grunde hatte der Philosoph selbst dabei überhaupt nichts mehr zu bestellen, wurde zum Propagandawerkzeug in den Händen schlauer Terrorstrategen, deren einzige Absicht es war, die deutschen Zustände im Ausland als faschistisch zu verleumden.

Doch war dies glücklicherweise noch nicht das Ende. In der allerletzten Zeit hatte Sartre begonnen, seine bisherigen Ansichten einer Generalrevision zu unterziehen und Zugang zu gänzlich neuen Denkansätzen zu suchen. Die Verbrechen der Kommunisten in Kambodscha und Afghanistan fanden in ihm einen leidenschaftlichen Ankläger, der sich nicht scheute, auch einem "schlimmen" Freundfeind aus alten Studientagen an der École Normale Superieure, Raymond Aron, die Hand zum gemeinsamen Protest zu reichen. Im Gespräch des erblindeten Philosophen mit Simone de Beauvoir in seinem Todesjahr 1980 kam man immer wieder darauf, daß man "gescheitert" sei und die Konsequenzen daraus zu ziehen habe.

Welche Konsequenzen sollte die Nachwelt aus Sartres politischem Scheitern ziehen? Hat dieses Scheitern das Werk im ganzen blamiert, so daß es heute kalten Blutes als "Klassiker" eingesargt werden kann? Wie steht es mit den steilen Thesen des philosophischen Hauptwerks "Das Sein und das Nichts"? Wie steht es mit den frühen Romanen, "Der Ekel", "Kindheit eines Chefs", die seinerzeit so viel Aufmerksamkeit auf sich zogen? Wie mit den berühmten Theaterstücken der vierziger und fünfziger Jahre, deren Uraufführung jeweils nur unter öffentlichem Trubel und wilden Schlägereien im Publikum über die Bühne gehen konnte?

Bühnenstücke von höchster Aktualität

Nun, zumindest könnte man sich per Neulektüre gründlich davon überzeugen, daß sowohl die Romane als auch die Theaterstücke - ganz abgesehen von der Botschaft, die sie transportieren - von höchstem literarischen Karat sind, so daß sich die Beschäftigung mit ihnen schon aus "formalen" Gründen lohnt. Sartre war eben nicht nur ein scharfer Denker, sondern auch ein ausgezeichneter Schriftsteller und Dramatiker, an den - wenn überhaupt welche - nur wenige bisherige Nachfolger heranreichen.

Die frühen Erzählungen sind Meisterwerke epischer Seelenanalyse, die ihresgleichen suchen. Die Theaterstücke und Filmskripte der mittleren Periode, von "Das Spiel ist aus" bis zur "Ehrbaren Dirne", sind durch die Bank höchst präzise und bühnenwirksam gebaut; ihre Wiederaufnahme ins Repertoire würde erweisen, daß ihnen gerade in unseren Tagen des Terrors und der Geiselnahmen außerordentliche Aktualität zukommt. Mit den "Schmutzigen Händen" gelang Sartre gar ein Schlüsselwerk der Epoche, eine grausame Parabel auf die Praktiken imperialistischer Machtergreifung, in welchem Zeichen auch immer.

Natürlich stand bei ihm stets die philosophische Reflexion im Mittelpunkt und beizte auch die Romane und die dramatischen Werke. Alle Texte Sartres sind reflektierende Texte, es gibt bei ihm keine "bloße Beschreibung" und auch kein von der Reflexion abgehobenes Sprachspiel um des Sprachspiels willen. Und immer herrscht der Ernstfall. Der einzelne sieht sich unweigerlich zu freier Entscheidung und Verantwortung aufgerufen und kann sich nicht hinter "objektiven Bedingungen" oder "Befehlsnotständen" verstecken.

Menschliche Existenz ist nach Sartre immer individuelle Existenz. Es ist jeweils der einzelne, der sich dem Leben, Gott oder dem Nichts konfrontiert sieht und ein Verhältnis zu diesen Gewalten finden muß; daran ändern auch seine spontanen, naturgegebenen Bezüge zum Mitmenschen, zur Gemeinschaft und zur Gesellschaft nichts. Angesichts des Ernstfalls bleibt er immer allein. Seine Existenz ist niemals "fertig", niemals zu hundert Prozent "vorgegeben". Es gibt kein vorlaufendes "Wesen" des Menschen, die Existenz geht vor der Essenz. Der Mensch ist in die Existenz "geworfen", und so muß er sich seinerseits "entwerfen".

Eine unbequeme Lehre zweifellos, speziell in Zeiten des totalen Geschwätzes, wo jedermann im "Diskurs" verharrt und vorab vor irgendwelchen "Strukturen" in die Knie geht, welche es angeblich unmöglich machen, Entscheidungen zu fällen. Sartre, zu Lebzeiten, speziell in den späteren Jahren, oft selber allzu intensiv in wesenlose "Diskurse" verstrickt, ist heute, fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tod, zum strikten Widerpart der herrschenden "Diskursethik", sprich: Feigheitsethik, geworden. Er lehrt uns, Verantwortung zu übernehmen, für Entscheidungen geradezustehen, sich nicht alles gefallen zu lassen. Ins Museum gehört Sartre nicht. 

Foto: Jean-Paul Sartre neben seiner Lebensgefährtin Simone de Beauvoir bei einer Stadtbesichtigung in Rom am 25. Oktober 1963: Die katholische Kirche setzte seine Bücher auf den Index

 

Prof. Dr. Günter Zehm hat mit einer Arbeit über Jean-Paul Sartre promoviert.

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