© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/05 17. Juni 2005

"Der Bundesregierung liegen keine Zahlen vor"
Krankenversicherung: Ausländische Familienmitglieder weiterhin privilegiert / Kosten stiegen auf 16 Millionen Euro
Detlev Rose

Nur eine kurze Welle der Empörung schwappte hoch, als Anfang 2003 bekanntwurde, daß Ausländer bei der deutschen Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eine Vorzugsbehandlung genießen. Durch Anfragen der CDU-Abgeordneten Martin Hohmann (Januar 2003) und Erika Steinbach (April 2003) im Deutschen Bundestag kam es hochoffiziell ans Licht: Familienmitglieder von in Deutschland krankenversicherten Türken und Bürgern aus dem ehemaligen Jugoslawien erhalten Leistungen der deutschen Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), selbst wenn diese Angehörigen in ihren Heimatländern leben.

Wer als Familienangehöriger gilt, richtet sich aber nicht nach deutschem Recht, sondern nach den in den jeweiligen Wohnsitzstaaten geltenden Definitionen. Während in Deutschland nur die Ehepartner, Lebenspartner und Kinder eines Versicherten in der GKV beitragsfrei mitversichert werden können, dehnt sich in den genannten Staaten der Kreis der Anspruchsberechtigten auf ganze Großfamilien aus. Dies freilich unter der Bedingung, daß die Angehörigen nicht selbst versichert sind und der in Deutschland Versicherte ihnen gegenüber unterhaltspflichtig ist. Die rechtlichen Grundlagen hierfür sind das deutsch-türkische Sozialversicherungsabkommen vom 30. April 1964 und das deutsch-jugoslawische Abkommen vom 12. Oktober 1968.

Was dies die GKV-Beitragszahler in Deutschland kostet, wollte jetzt der Bundestagsabgeordnete Henry Nitzsche (CDU) von der Bundesregierung wissen. Eine Antwort erhielt er von Franz Thönnes (SPD), dem Parlamentarischen Staatssekretär im Gesundheitsministerium. Seinen Angaben zufolge haben deutsche Krankenkassen für die gesundheitliche Versorgung von Familienangehörigen im Jahr 2002 gut 12,46 Millionen Euro in die Türkei überwiesen. 956.000 Euro gingen nach Bosnien-Herzegowina, 618.000 Euro nach Serbien-Montenegro und 558.000 Euro nach Slowenien (Bundestags-Drucksache 15/5230). Schätzungen zufolge sollen außerdem 1,1 Millionen Euro an Kroatien und 286.000 Euro an Mazedonien geflossen sein.

Ausgaben für die Türkei um 35 Prozent gestiegen

Damit belaufen sich die Gesamtleistungen für Familienmitglieder in der Türkei und den Nachfolgestaaten Jugoslawiens im Jahr 2002 auf knapp 16 Millionen Euro. Aktuellere Zahlen sind für die meisten Staaten noch nicht bekannt. Auffällig ist zudem, daß die Kosten in den Balkanstaaten tendenziell stagnieren oder sogar rückläufig sind, während sie in der Türkei kräftig steigen. Im Jahr 2002 waren sie rund 35 Prozent höher als 1999.

Erhält ein Anspruchsberechtigter medizinische Leistungen in seinem Heimatland, trägt die Kosten hierfür zunächst die dortige Krankenversicherung. Diese Ansprüche werden dann in Deutschland eingereicht und nach Prüfung mittels einer pauschalen Kostenabrechnung erstattet. Grundlage sind also nicht die tatsächlichen Kosten, sondern die jährlich mit den einzelnen Staaten neu vereinbarten Monatspauschbeträge pro Familie. Wie viele Angehörige von den Regelungen profitieren, ist aufgrund der pauschalen Abrechnung offensichtlich uninteressant. "Der Bundesregierung liegen keine Zahlen darüber vor", heißt es in der Antwort an Nitzsche.

Deshalb ist es auch unmöglich, die Kosten aufzuschlüsseln nach denjenigen Familienangehörigen, die auch nach deutschem Recht anspruchsberechtigt wären, und denen, die nach dem "erweiterten Familienbegriff" der Abkommenstaaten Leistungen erhalten. Für die Bundesregierung ist es gerade wegen dieses Verfahrens "finanziell unbedeutend, wenn im Einzelfall der Kreis der mitversicherten Familienangehörigen nach den dortigen Rechtsvorschriften über den Kreis der nach den deutschen Rechtsvorschriften mitversicherten Familienangehörigen hinausgeht" (Antwort von Franz Thönnes auf die Anfrage von Erika Steinbach, BT-DS 15/856). Der Versuch, unter der Berufung auf das Abrechnungsverfahren die Vorzugsbehandlung von Ausländern wegzuargumentieren, erweist sich jedoch als allzu fadenscheinig. Kurz zuvor hatte Thönnes nämlich dem Abgeordneten Hohmann noch erklärt, die Pauschbeträge "basieren auf den Durchschnittskosten in der Türkei geschützter Personen nach türkischem Recht und berücksichtigen die durchschnittliche Zahl der in der Türkei wohnenden Familienangehörigen" (BT-DS 15/337).

Und das ist der Punkt: Die Monatspauschbeträge müßten deutlich geringer ausfallen, wäre nicht die "durchschnittliche Zahl" der Familienangehörigen berücksichtigt, sondern nur die auch nach deutschem Recht Anspruchsberechtigten. Die Ausländer-Privilegierung aufgrund der Abkommen ist also sehr wohl auch finanziell bedeutend.

Die rot-grüne Bundesregierung - wortreich präsent, wenn es um "Gerechtigkeit" geht - lehnt eine Änderung der Regelungen kategorisch ab. Bleibt für die GKV-Zahler in Deutschland nur die Hoffnung, daß sich die Union an das Thema auch dann noch erinnert, wenn sie ab Herbst die Bundesregierung führt.

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