© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/05 17. Juni 2005

Keine Entschuldigung für die Okkupation des Baltikums
Europa: Der russisch-estnische Grenzvertrag bleibt nach seiner Unterzeichnung umstritten / Bislang kein Vertrag mit Lettland / Konflikt mit Litauen scheint gelöst
Martin Schmidt

Die russische Außenpolitik ist noch immer geprägt von den Komple-xen einer unterlegenen Supermacht - auch gegenüber den kleinen baltischen Ländern, die seit dem 1. Mai 2004 zur EU gehören. Daß es seit einer erstmaligen Übereinkunft über einen Grenzvertrag im November 1996 und einer abermaligen Paraphierung im März 1999 noch Jahre gedauert hat, bis ein Abkommen zwischen Rußland und Estland geschlossen wurde, spricht Bände.

Dabei wurde immer die angebliche Verletzung von Menschenrechten der in Estland lebenden Russen ins Feld geführt, um die Verschiebung des Vertrages zu rechtfertigen. Zugleich behielt Moskau ein wichtiges diplomatisches Druckmittel in der Hand, da die Festlegung der Grenzen mit Rußland zu den Bedingungen für eine EU-Mitgliedschaft der baltischen Staaten zählte.

Am 18. Mai diesen Jahres unterschrieben nun die Außenminister Urmas Paet und Sergej Lawrow in Moskau das überfällige Dokument. Nachdem zuletzt noch über Datum und Ort der Vertragsunterzeichnung gestritten worden war - Estland wünschte sich Dorpat (Tartu) und den 2. Februar als 85. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion (mit dem Frieden von Dorpat von 1920 erkannte die Sowjetunion die Unabhängigkeit Estlands an), während der Kreml Moskau und den 9. Mai vorschlug -, legte Rußland plötzlich einen ungewohnten Pragmatismus an den Tag.

Der estnische Präsident Arnold Rüütel hatte sein Kommen zu den Siegesfeiern am 9. Mai ebenso abgelehnt wie sein litauischer Amtskollege Valdas Adamkus (JF 14/05). Russische Einschüchterungsversuche vermochten daran nichts zu ändern: US-Präsident George W. Bush stellte sich unmittelbar vor dem Moskauer Spektakel demonstrativ hinter die Balten. Der russische Präsident Wladimir Putin stimmte schließlich dem 18. Mai als Kompromißdatum zu.

Die Staats- und Seegrenzen wurden weitgehend entsprechend der früheren Demarkationslinie zwischen der Russischen Föderativen Sozialistischen Sowjetrepublik und der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik festgelegt. Es gab nur unbedeutende Veränderungen in Gestalt eines Gebietstauschs von je 128,6 Hektar Festland und je 11,4 Quadratmeter Seenfläche. Die Fahrrinne des Peipus-Sees (wo der Nowgoroder Fürst Alexander Newski 1242 eine Streitmacht des Deutschen Ordens besiegte) wird in der Mitte geteilt. Rußland bekommt so einen Zugang vom See aus zum Narwa-Fluß, während Estland mit Seeanteilen im Bereich der größten Peipus-Seeinsel Porka (Piirissaar) entschädigt wird. Die Gesamtlänge der estnisch-russischen Grenze beträgt jetzt 460,6 Kilometer.

Beide Parlamente müssen das Abkommen noch ratifizieren

Obwohl der Vertrag nun unterschrieben ist, heißt das dennoch nicht, daß die Streitereien damit ihr Ende gefunden haben. Beide Nationalparlamente müssen das Abkommen noch ratifizieren. Daß dieser Schritt auch so manchen Abgeordneten im estnischen Reichstag (Riigikogu) schwerfällt, offenbarte sich in Reval (Tallinn) bereits bei der ersten Lesung des Grenzvertrages am Mittwoch letzter Woche.

Die Kritik entzündet sich vor allem am estnischen Verzicht auf die Rückgabe einiger (im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes 1940 abgetretener) Gebiete östlich von Narwa und südlich des Peipus-Sees. Darüber hinaus fordern viele estnische Abgeordnete, daß sich Rußland - ergänzend zu dem Abkommen - ausdrücklich für die 1940 erfolgte Okkupation des Baltikums durch die Sowjetunion entschuldigen solle, was Moskau aber nach wie vor ablehnt.

Ein Grenzabkommen mit Lettland steht indes immer aus. Die Hoffnung der lettischen Präsidentin Vaira Vike-Freiberga, durch ihre Teilnahme an der Moskauer Siegesfeier ein geeignetes Klima für eine rasche Vertragsunterzeichnung zu schaffen, hat sich als trügerisch erwiesen. Dementsprechend zornig zeigen sich die lettische Öffentlichkeit und ein Großteil der Parlamentsabgeordneten. Während Estland auf Gebietsrückgaben verzichtete, verweigert Lettland die Anerkennung ähnlicher Verluste - vor allem des Gebiets um Neu-Lettgallen (Abrene/Pytalowo). Darüber hinaus forderte die Volksvertretung in Riga am 13. Mai von Rußland als Rechtsnachfolger der UdSSR einen Ersatz für die durch die sowjetische Besatzung entstandenen Schäden in Höhe von 60 bis 100 Millionen US-Dollar.

Im Gegenzug setzt Rußland seine Polemik gegen die Ehrung von Angehörigen der lettischen Division ("NS-Kollaborateure") sowie gegen das - auch von der EU kritisierte - strenge lettische Staatsbürgerschaftsrecht fort. Letzteres sieht auch für nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 im Lande geborene Kinder russischer Zuwanderer aus der Sowjetzeit kein automatisches Bürgerrecht vor. Damit soll eine "Überfremdung" durch den mit 40 Prozent sehr hohen russischsprachigen Bevölkerungsteil verhindert werden.

Selbst die am 26. Mai vom lettischen Parlament gegen massive Widerstände ratifizierte, bereits 1994 verabschiedete europäische Konvention zum Schutz nationaler Minderheiten vermochte den Kreml nicht zu besänftigen: Unter Hinweis auf die lettischen Vorbehalte gegen die Benutzung anderer Sprachen bei der Benennung von Straßen sowie des Verbots der Sprachen nationaler Minderheiten in staatlichen Institutionen sprach etwa Wladimir Lukin, Rußlands Bevollmächtigter für Menschenrechte, von einer "Pseudo-Ratifikation".

Dabei hatte sich die Mehrheit der Parlamentarier in Riga angesichts des Drucks aus Moskau und Brüssel zu der Zusicherung durchgerungen, daß die in der Konvention festgeschriebenen Rechte auch für solche Bürger gelten, die keinen lettischen Paß besitzen, aber ständig legal im Lande leben. National-konservative Letten sehen in diesem Entgegenkommen eine - angesichts der großen Zahl der russischen Zuwanderer - leichtsinnige Entleerung des Minderheitenbegriffs. Schließlich seien die nach 1945 aus allen Teilen der UdSSR gezielt angesiedelten Menschen - anders als die kleine Gruppe der schon vor 1900 dort heimisch gewordenen Russen und ihrer Nachkommen - völkerrechtlich nicht als Minderheit zu betrachten.

Konträr zur politischen und veröffentlichten Meinung in den anderen EU-Staaten sind sich die meisten Letten und Esten der Tatsache bewußt, daß die russischen Parallelgesellschaften auf ihrem Territorium eine latente Bedrohung der 1991 wiedergewonnenen nationalen Freiheit darstellen.

Entsprechend selbstbewußt vertreten sie ihr Gegenrezept in Form eines starken soziokulturellen Anpassungs- und Integrationsdrucks - trotz des Widerstands aus Moskau und Brüssel. Daß der russisch-litauische Grenzvertrag bereits 1997 unterzeichnet und im August 2003 durch den Austausch der Ratifikationsurkunden besiegelt wurde, überrascht nicht: Litauen gehört - trotz der sowjetischen Besatzungszeit - letztendlich zu den Gewinnern. Das Memelland gehörte einst zu Ostpreußen und das Gebiet um Wilna (Vilnius) bis 1939 zur damaligen Republik Polen.

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