© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/05 17. Juni 2005

Kolumne
Die Wiederkehr der Wendehälse
Klaus Motschmann

In Deutschland vollzieht sich angeblich wieder eine Wende, diesmal nach rechts. Man ist er staunt, welche Meinungen seit einiger Zeit von den Verantwortlichen in Gesellschaft und Politik vertreten werden, insbesondere von den 68ern im allgemeinen und den Grünen im besonderen. Pastorin Antje Vollmer, prominente 68erin, hat dazu erklärt: "Tatsächlich haben die Grünen einen aufreibenden Lernprozeß durchgemacht, an dessen Ende das Begreifen einer neuen Weltverantwortung steht." Dazu gehöre unter anderem, daß die "absolute Libertinage nirgendwo so entschiedene wertkonservative Gegner wie bei den Grünen selbst" findet. Hört, hört!

Bedauerlicherweise ist von diesem Bewußtseinswechsel - wenn er tatsächlich stattgefunden haben sollte - in der öffentlichen Auseinandersetzung kaum etwas zu bemerken. Deshalb trägt eine derartige Aussage lediglich zur Verklärung, nicht aber zur Klärung grüner Politik bei. Die bloße Tatsache, daß zahlreiche Grüne inzwischen um ein gepflegtes Äußere und ordentliches Benehmen bemüht sind, sollte nicht irritieren. Es spricht sehr viel dafür, daß es vielmehr ein Indiz für die opportunistische Anpassung an die veränderte politische Großwetterlage ist und auf Täuschung des Publikums abzielt. Wir sollten uns an den reichen Erfahrungsschatz erinnern, den die vielzitierten "Wendehälse" der Wendezeit nach 1989 hinterlassen haben. Insofern sind ernste Zweifel an den Ergebnissen des "aufreibenden Lernprozesses" berechtigt. Antje Vollmer hätte wenigstens im Ansatz überzeugend argumentiert, wenn sie uns mitgeteilt hätte, ob es auch ein "aufrichtiger" Lernprozeß gewesen ist. Dazu hätte das einfache Eingeständnis eigenen Versagens und eigener Irrtümer in dem keineswegs aufreibenden Prozeß der "Systemveränderung" im Laufe der vergangenen dreißig Jahre gehört, bei dem die Grünen eine entscheidende Rolle gespielt haben. Davon kann in der gegenwärtigen Diskussion aber keine Rede sein.

Im Gegenteil! An den Zielen der bisher verfolgten Politik soll nach ungezählten Erklärungen der letzten Wochen ausdrücklich festgehalten werden. Es sollen lediglich neue Wege beschritten werden, die dem Volk allerdings besser als bisher erklärt werden sollen. Dabei sollen einige "handwerkliche Fehler" bei der Durchsetzung dieser Politik beseitigt werden.

Wie würde wohl die Öffentlichkeit reagieren, wenn ein Arzt, ein Architekt, ein Rechtsanwalt, ein Busfahrer oder eben ein Handwerker offenkundiges und wiederholtes Versagen zum Schaden von Menschen auf diese Weise erklärte und damit jede Frage nach seiner Verantwortung für diesen Schaden abwiese?

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.

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