© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/05 10. Juni 2005

Gefiederter Nomos
Ein Buch für den Urlaub an der See: Der Flug des Albatros
Olaf Koehler

Wer in diesem Sommer aufbricht, um auf den Archipelen ein Vorgefühl auf Nietzsches Zeit ohne Ziel zu genießen, sans phrase: auf den eigenen Tod, der packe das Buch von Carl Safina über die Albatros-Dame Amelia in die Reisetasche. Die Archipele - das könnten Mauritius, Ceylon, Bali oder die Seychellen sein. Dort ist man dem Albatros zwar nahe, begegnet ihm aber trotzdem fast nie. Also forsch Thomas Mann variiert: Es muß nicht immer Mauritius sein, Hiddensee tut es auch oder Rügen, Fehmarn, Amrum.

Ein mythischer Vogel, und deshalb zweifellos ein ganz anderes Kaliber als Austernfischer, Brachvogel oder Pirol, die deutsche Naturlyriker gemeinhin inspirieren. Der Albatros kommt natürlich auch sehr gut ohne Coleridge oder Baudelaire aus. Denn ihm gegenüber wirken selbst Großpoeten des einst kolonienreichen "Westens" wie Provinzler. Der Albatros ist ein Weltvogel, das Wappentier der Globalisierung, der Herold des neuen, des nicht mehr eurozentrischen Nomos der Erde, also keinesfalls der Repräsentant eines kümmerlich-provinziellen Volksnomos. Ob man in Washington nicht überlegen sollte, den raumgebundenen Weißkopfadler, diesen Nesthocker, im US-Wappen durch den grenzenverachtenden Weltumsegler mit der unerreichten Flügelspannweite zu ersetzen? Den Nomaden der Lüfte, der gleitet, schwebt, flottiert wie das Kapital der Hedge Fonds?

Doch genug getändelt. Zurück zu Safinas Buch über den Albatros. Wie schafft er es, 500 Seiten über ein Tier zu schreiben, das sich menschlicher Beobachtung weitgehend entzieht, weil es 95 Prozent seines Lebens fliegend über den Ozeanen zubringt? Nun, Safina begibt sich mit einer Forschergruppe auf die Nordwestlichen Hawaii-Inseln, tausend Kilometer von Honolulu entfernt, der abgelegensten Eilande der Erde. Europäer wissen von diesen Felsbrocken und Atollen über der pazifischen Tiefsee nur, weil am äußersten westlichen Zipfel der Insel-Kette Midway liegt, wo am 4. Juni 1942 Japans Großmachttraum mit des Tennos Trägerflotte im Meer versank. Auf Midway, das seit der Auflösung des US-Stützpunkts (1997) Naturschutzgebiet ist, erobern sich die Albatrosse seitdem ein altes Brutgebiet zurück. Ihre Bestände reichen aber bei weitem noch nicht an die Kolonien auf den östlicher gelegenen Inseln Laysan und Term heran.

Auf Term Island fand Safina seine Titelheldin, ein brütendes Laysanalbatrosweibchen, dem ein 3.000-Dollar-Peilsender ins Gefieder gesteckt wurde. Per Satellit ließen sich seitdem ihre Langstreckenflüge verfolgen. Jeder Flug auf Nahrungssuche für ihr einziges Küken dauert etwa vierzehn Tage, zieht Amelia bis in subarktische Gefilde südlich der Aleuten, wo ihre Lieblingsbeute, der Tintenfisch, lebt, und führt sie nach einer Strecke von 4.000 bis 6.000 Kilometern mit traumhafter Sicherheit zurück zum Nest auf Term Island. Hat ein Albatros seine Erdenbahn nach sechzig Jahren vollendet, liegen vier Millionen Seemeilen, also hundertzwanzig Weltumsegelungen hinter ihm.

Da Safina auf Amelias "Reisen" nicht als "Flugbegleiter" dabeisein konnte, stützen sich seine ausführlichen Schilderungen dessen, "was sie unterwegs sah und erlebte", auf "Vermutungen", die allerdings unterfüttert sind mit dem, was die Forschung bisher über das Verhalten dieser Vögel und ihre Lebensräume weiß. Dies breitet Safina mit dem langen Atem des Prosaisten aus, wobei leider wieder die albern "menschelnden" Passagen ("Lauras Shorts sind mit Farben gesprenkelt ...") stören, auf die angelsächsische Sachbuchautoren offenbar nicht verzichten wollen, einerlei ob sie über Albatrosse, Schildkröten (Davidson, "Die sanften Riesen", JF 49/03) oder Kapitän Cooks Fahrten (Horwitz, "Entdeckung des Entdeckers", JF 39/04) berichten.

Ungeachtet solcher Unarten, macht Safina in jenen Kapiteln, in denen er Amelia scheinbar verläßt, uns mit der Komplexität des Ökosystems vertraut, das sie bewohnt und das der Mensch kräftig in Unordnung bringt (Stichwort: globale Erwärmung) - damit ihren und seinen eigenen Nomos auflösend.

Zwangsläufig muß Safina sich daher mit solchen Gefahren befassen, die das Überleben dieser Vögel, die auf 25 Millionen Jahre Evolutionsgeschichte zurückschauen dürfen, bedrohen. Schockerfahrungen wie sein an grausamen Fakten reicher historischer Rückblick auf die Abschlachtungen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert den Albatros bis an den Rand des Aussterbens brachten, bleiben dem Leser dabei nicht erspart. Im 19. Jahrhundert belebte sich die europäische Nachfrage nach Vogelfedern, am unersättlichsten war der "modeverrückte Hutmarkt" in Paris. Auch Vogeleier fanden Abnehmer. So weideten vornehmlich japanische Federjäger und Eiersammler Insel für Insel ab und töteten Albatrosse zu Hunderttausenden. Als die Wilderer zum Beispiel 1903 Midway verliessen, hatten sie eine halbe Million Albatrosse auf dem Gewissen.

Safina erwähnt, daß nach buddhistischer Weltanschauung jede Tat ihre Folgen für den hat, der sie begeht. Mit Blick auf den 4. Juni 1942 hätten also gerade Japaner allen Grund, über ihr gestörtes Verhältnis zur Natur nachzudenken. Doch heute sind es wiederum Japaner, die den Albatros zusammen mit anderen Fischereinationen an den Abgrund drängen: den mit Ködern bespickten Langleinen der Trawlerflotten fallen alljährlich mindestens 100.000 der eleganten Segler zum Opfer. Japan, das ohnehin "regelmäßig die Bemühungen internationaler Naturschutzorganisationen untergräbt", weigerte sich auch, die Resolution der North Pacific Longline Association zum verbesserten Schutz der Vögel vor den Haken der Fischer zu unterschreiben.

Safinas hochinformatives Werk, das sich perspektivisch von der Vogelbeobachtung zur ökologischen Enzyklopädie des pazifischen Lebensraums weitet, hätte eine großzügigere, womöglich farbige Bebilderung verdient.

Carl Safina: Ein Albatros namens Amelia. Aus dem Leben eines Sturmvogels. Übersetzt von Sebastian Voel. Mare Verlag, Hamburg 2004, 520 Seiten, Abbildungen, 26,90 Euro


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