© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/05 10. Juni 2005

Integration, Anpassung und Propaganda
Vergangenheitsbewältigung: Nationalsozialistische Eliten im Nachkriegsdeutschland / Podiumsdiskussion der Stasi-Unterlagenbehörde
Ekkehard Schultz

Die Bewältigung und Aufarbeitung des Nationalsozialismus nach dem Krieg war jahrzehntelang ein Streitpunkt für innenpolitische Auseinandersetzungen in Westdeutschland, der im Kalten Krieg gerne von den mitteldeutschen Machthabern in Stellung gebracht wurde. Selbst fünfzehn Jahre nach dem Ende der DDR und der Öffnung ihrer Archive - und sechzig Jahre nach dem Kriegsende - scheint dieses Thema immer noch reichlich Sprengkraft zu besitzen. Das zeigten auch die jüngsten Auseinandersetzungen um die Nachrufregelung für ehemalige Beamte des Auswärtigen Amtes mit NSDAP-Parteibuch und die daraufhin erfolgte Ankündigung von Außenminister Joseph Fischer (Grüne), die Geschichte des Ministeriums von Historikern aufarbeiten zu lassen (JF 16/05).

In der DDR stand die Propaganda im Vordergrund

Dies war für die Behörde der Bundesbeauftragten für die Akten des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BstU) jetzt Grund genug, in Berlin auf einer Podiumsdiskussion mit dem Titel "Eliten und Experten - Der Umgang mit der NS-Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland" der Frage nach der Integration von NS-Eliten in West- und Mitteldeutschland nachzuspüren.

Zur Einführung in die Thematik beleuchtete Michael Wildt vom Hamburger Institut für Antisemitismusforschung die von ihm gesichteten Akten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), in denen Material über einstige NS-Eliten und -mitläufer zusammengetragen wurde. Er betonte, daß dortige Personalakten zwar durchaus umfangreiches Material über Beamte des früheren Reichssicherheitshauptamtes böten. Auffällig sei jedoch, daß dieses Material bis zum Ende der DDR nie als Basis einer Aufarbeitung der Wirkungsweise dieser wichtigen nationalsozialistischen Institution genutzt wurde. Statt dessen habe das MfS die Sammlung darauf ausgerichtet, Informationen über NS-Eliten zusammenzutragen, um sie als mögliche Handhabe gegen diese zu politischen Zwecken einzusetzen.

So sei zielgerichtet gegen in West-Deutschland und West-Berlin lebende Personen in dortigen Staatsstellungen nach besonders belastenden Dokumenten geforscht worden, um diese zunächst möglichst spektakulär "entlarven" zu können. Grundsätzlich habe der politische Propagandazweck im Vordergrund gestanden und nicht der einzelne Sachverhalt. Dies werde auch dadurch unterstrichen, daß das MfS - soweit das Material nicht vollständig war oder entscheidende Belege fehlten - Fälschungen anfertigen ließ.

Bereits dieser Blick in die Akten verdeutliche wesentliche Unterschiede im Umgang mit der Vergangenheit in Ost und West, sagte Wildt: Ziel sei zunächst in allen Besatzungszonen die Entmachtung der alten Eliten gewesen. In Westdeutschland verlief diese Entmachtung in erster Linie auf der individuellen Basis der jeweiligen Anschuldigungen. Dies trug dazu bei, daß auf sozialem oder kulturellem Gebiet zunächst kein wesentlicher Bruch mit dem Vorgängersystem stattfand. In Mitteldeutschland wurde dagegen bereits kurz nach Kriegsende Kurs auf eine radikale strukturelle Entmachtung genommen, die neben der Zerschlagung der alten Ordnung bereits dem Zweck des Aufbaus einer neuen Herrschaft diente. Wo deren Ziele nicht direkt mit denen des Nationalsozialismus kollidierten, wurde der Rückgriff auf alte Eliten nicht gescheut: Während in der Lehrerschaft und der Justiz die Entnazifizierung radikal vorangetrieben wurde, habe dies nicht für Ärzte, Militärs, Techniker gegolten.

Konrad H. Jarausch vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam erinnerte daran, daß sich neben der Masseninternierung in der SBZ auch in den westlichen Besatzungszonen 1945 Hunderttausende von Personen in Internierungslagern befunden hätten, was zwangsläufig zu personellen Diskontinuitäten geführt habe.

Geringe Sensibilität der Gesellschaft

Das, was später von Teilen der linken Intelligenz im Westen als "Restauration" bezeichnet wurde, begann 1949, als in der gerade gegründeten Bundesrepublik alle Straftaten aus der Vergangenheit verjährten, welche Delikte betrafen, für die bis zu bis sechs Monate Haft drohten. Nach Auffassung von Annette Leo vom Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin sei nach dem Krieg grundsätzlich eine geringe Sensibilität in der Gesellschaft für NS-Verstrickungen vorhanden gewesen. Nicht-Wissen und die Nicht-Verfolgung hätten einen Spannungszustand gebildet und zur wechselseitigen Blockade beigetragen.

Trotz aller Bedenken hinsichtlich einiger Einzelfälle betrachtet Wildt die funktionale Entscheidung von Adenauer, einen Teil der nationalsozialistischen Eliten in die Gesellschaft zu integrieren, als nachvollziehbar und verständlich. Selbst durch die Wiedereingliederung zahlreicher NS-Mitglieder im Außenministerium nach 1949 lasse sich kein Anknüpfen an der NS-Außenpolitik beobachten. Auch Jarausch sieht die Integration letztlich als Preis für die Aussöhnung der bundesrepublikanischen Gesellschaft an. Wolle man von Kontinuitäten reden, so seien diese ohnehin nicht ideologischer - wie durch die DDR-Propaganda behauptet -, sondern personeller Art, die zudem auch keineswegs langfristiger Natur waren: So gab es etwa bei höheren Polizeibeamter - wo anfangs durchaus belastete Personen erneut eine Anstellung gefunden hatten - seit den sechziger Jahren einen starken Rückgang dieser Gruppe.

Im Gegensatz zur Vergangenheitsaufarbeitung in der Bundesrepublik habe sich, so Leo, die Sichtweise der DDR starr auf den Begriff des "Antifaschismus" bezogen. Die wichtigste Lehre habe in der Ausrottung der vermeintlichen Wurzeln des Nationalsozialismus gelegen. Gleichzeitig wurde jedoch auch in der DDR - nahezu äquivalent zu den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik - auf eine hohe Willfährigkeit von ehemaligen Nationalsozialisten gegenüber dem neuen System gesetzt. Wer bereit war, sich an die neuen Lehren anzupassen, für den bestand die Chance, auch trotz größerer Verbrechen unbehelligt zu bleiben. Gerne behielt sich der neue Staat die Möglichkeit der Erpressung vor.

Alle Podiumsteilnehmer waren sich darüber einig , daß die wichtigste Frage der zukünftigen Aufarbeitung dieses Komplexes darin liegen werde, darüber zu forschen, welche Last der Vergangenheit eine Gesellschaft aushalte und welche ihre Kräfte übersteige. Dies sei auch für den internationalen Vergleich und zur Gegenüberstellung mit der Bewältigung des Kommunismus von hohem Erkenntniswert.


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