© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/05 03. Juni 2005

Viel mehr als Elbe
Von Nazis keine Spur: Wie eine norddeutsche Kleinstadt das Kriegsende vor sechzig Jahren begeht
Thomas Illmaier

Klein-Moskau liegt an der Elbe; seinen Spitznamen hat die Stadt Geesthacht, zwischen Hamburg und Lauenburg (dem ehemaligen Grenzübergang in die DDR) gelegen, noch aus den 1920er Jahren. Damals war Geesthacht eine Hochburg der Kommunisten.

In Geesthachts Ortsteil Krümmel erfand Alfred Nobel 1867 das Dynamit; dort baute der spätere Nobelpreis-Friedensstifter und Förderer der Wissenschaften eine der ersten Sprengstoff-Fabriken der Welt. Nicht zufällig übrigens; denn das hohe Elbufer, die eiszeitliche Moränen- und Dünenlandschaft bot idealen Schutz bei Detonationen: Wenn etwas explodieren sollte, würden die Hügel der uralten Dünenlandschaft die Druckwellen brechen.

Geesthacht-Krümmel gedieh unter Hitlers nationalsozialistischer Regierung, aufgewertet durch persönliche Besuche des Leiter der Deutschen Arbeitsfront (DAF) Robert Ley, der mit fortlaufendem Kriegsgeschehen immer öfters betrunken vor die Mikrophone und die hörend hörigen Massen trat, zu einer der größten Sprengstoff-Fabriken Europas, einem "Kriegsmusterbetrieb", ausgedehnt und perfekt getarnt auf rund 350 Hektar Wald- und Dünenlandschaft. 20.000 Fremdarbeiter schufteten hier, in unmittelbarer Nachbarschaft - Luftlinie rund 15 Kilometer - des Konzentrationslagers Neuengamme.

Heute steht in Geesthacht-Krümmel eins der größten und modernsten Kernkraftwerke Europas. Geesthacht hat wahrlich Industriegeschichte geschrieben. In den Annalen der Politik kommt es indessen eher verhalten vor; denn die Zeiten, als die Züge von Hamburg, vollbesetzt mit deutschen, vom Kriegsdienst freigestellten Angestellten, nach Geesthacht-Krümmel ins gigantische und vom Luftraum aus nicht einzusehende Werk der Dynamit Nobel AG rollten, wobei große Transparente mit der Aufschrift "Räder rollen für den Sieg" an den Waggons der Züge prangten - diese Zeiten sind vorbei, vergessen. Das macht das Andenken an jene Zeit heute so besonders schwer.

Hitler, Himmler und Heydrich glänzen durch Abwesenheit

Die sogenannte Erinnerungskultur in Deutschland ist bis heute der Sicht der Sieger zu verdanken. Wer sich in der Flut von Dokumentarfilmen über den Zweiten Weltkrieg noch zurechtfindet, wird bald gemerkt haben, daß fast alle filmischen Dokumente von britischen, amerikanischen oder russischen Militär-Kameraleuten gedreht worden sind. Wo bleibt die deutsche Perspektive? Wie haben die deutschen Landser, die Kommandeure auf verlorenem Posten gedacht? Was haben sie empfunden inmitten dieses aussichtslosen Kampfes? Was passierte nach der Niederlage und Kapitulation? Erst wenn diese Fragen beantwortet worden sind, kann man daran gehen, Denken und Fühlen der Deutschen jener Zeit zu verstehen.

Wie begeht nun eine Kleinstadt wie Geesthacht, die mit dem sinnigen Spruch "Viel mehr als Elbe" für sich und mehr Tourismus wirbt ("Luftkurort" bleibt angesichts des elbgekühlten Kernkraftwerks natürlich ausgeschlossen), das Kriegsende - und für viele Deutsche damals war es das Weltende?

Der Alte Friedhof, an der alten Reichstraße nach Berlin gelegen, ist geschlossen. Nur die alte Kapelle auf dem Friedhof, nach dem Krieg zur Lagerhalle verkommen, wird wieder als Gedenkkapelle genutzt. Sie steht unter Denkmalschutz. Hier wird des Zweiten Weltkrieges, seiner Toten und Vermißten, hier wird des großen Verderbens der weltweiten Völkervernichtung gedacht.

Die in dieser Gedenkkapelle eben zu Ende gegangene Ausstellung "Corpusculum" von Sylvia Stuhr wurde durch ein Zitat von Bertolt Brecht schon an der Berliner Straße (der alten Reichsstraße nach Berlin und heutigen Bundesstraße 5), wo die Kapelle liegt, angekündigt: "Ausstellung" prangt auf dem Banner, darunter das Zitat von Brecht "Traurig das Land, das Helden nötig hat." Ein Held ist vor allem ein mutiges Vorbild. Mutige Vorbilder braucht Deutschland also nicht. Es genügen Schröder, Fischer und Thierse, um unseren Durst nach Vorbildern zu stillen - und um nicht traurig zu sein.

In der Gedenkkapelle selbst tut sich einem nicht etwa das große Pandämonium der Hitler- und Herrenzeit mit ihren wechselnden Siegern und Besiegten auf, sondern das hämische Geschichtsverständnis einer im sozialdemokratischen Milieu hängengebliebenen und unter Gesinnungszwang leidenden Geschichtsverwaltung.

Die Skulpturengruppe von Sylvia Stuhr, ein Ausschnitt ihres Kaleidoskops der Vernichtung unter dem Titel "Corpusculum", auf dem Boden der Kapelle und auf Sand gebettet, zeigt zerfetzte Menschenleiber aus Papier, entseelte Torsi, oft in spielerischer Pose festgehalten und so einen letzten Anklang an das Leben erhaschend. Soweit die Vision der Künstlerin.

Wer den Blick, der mit zu Boden gesenktem Haupte sehr schnell betreten wird, erhebt, sieht sich den politischen Auguren gegenüber, deren Gesinnung bis heute Ton und Umgang der Deutschen bestimmt. Aussprüche von Brecht über Tucholsky bis zu Nelly Sachs, deren Gedicht "Auf das die Verfolgten nicht Verfolger werden", Rechtschreibfehler inbegriffen, das Zentrum der Kapelle ausleuchtet.

Gerade dieses Gedicht sollte den Blick auf die politische Kultur Deutschlands lenken helfen. So sehen wir uns um. Sofort fällt auf, daß die eigentlichen Täter fehlen; Hitler, Himmler und Heydrich glänzen durch Abwesenheit. Statt dessen werden den gehängten stilisierten Fahnen mit Aussprüchen von Nelly Sachs, Kurt Tucholsky oder dem polnischen Zwangsarbeiter, dessen Grabstein in Geesthacht das Motiv für einen Schnappschuß hergab, die ganz besonderen "Täter" gegenübergestellt: Kaiser Wilhelm II. und Otto von Bismarck, der Eiserne Kanzler.

Wilhelm II. spricht zum Betrachter noch einmal sein bekanntes Wort: "Ich führe euch herrlichen Zeiten entgegen" - ein Hohn auf die Opfer? Wo bleibt Hitlers Ausspruch: "Der Antisemitismus ist der Zement des Nationalsozialismus"? Bismarck läßt markig verkünden: "Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt." Und das in der Gedenkkapelle, einem religiösen Andachts- und geschichtlichen Erfahrungsraum, während die Familie Bismarck in Friedrichsruh, 15 Kilometer Luftlinie entfernt im nahegelegenen Sachsenwald lebt, wo auch der Eiserne Kanzler im Mausoleum über der Familiengruft der Bismarcks ruht.

Da hätten die Macher der Ausstellung doch eigentlich gleich, um ihre Sicht der Dinge abzurunden, die Zustimmung der Sozialdemokratie für Wilhelms Kriegskredite plakatieren können. Ein wenig Selbstkritik wäre doch wohl angebracht, zumal mit Rücksicht auf die Bevölkerung, die oft gar nicht zur Schule gehen konnte, weil Nazis und Kommunisten aufeinander schossen. Rote Fahnen und das Hakenkreuz hingen oft genug in ein und derselben engen Straße aus den Fenstern.

Die Ausstellungsmacher mit ihrer verfälschenden Sicht auf die Geschichte huldigen dem Triumph der Siegermächte über Deutschland noch heute. Klein-Moskau ist nicht tot.

Gerade weil es auch in der DDR so ein selbstgebasteltes und schließlich bankrottes Geschichtsbild gab, gerade deshalb hätten die in der politisch-historischen Verantwortung stehenden Ausstellungsmacher und auch die Künstlerin selbst, die natürlich zuerst einmal froh war, ihre Figuren überhaupt vorzustellen, die Ausgewogenheit der Geschichte zur Darstellung bringen müssen. Dazu gehören allerdings die Tatzeugen selbst und nicht irgendeine verblaßte Vätergeneration, die Eltern und Großeltern der Nazi-Generation. In den Augen der Macher gilt offenbar die historische Sippenhaft bis heute.

Nelly Sachs, die große Dichterin und spätere Literatur-Nobelpreisträgerin, die bei Selma Lagerlöf in Schweden Zuflucht vor den Nationalsozialisten fand, soll deshalb - diesmal ohne Rechtschreibfehler - das Schlußwort als mahnende, warnende, schreckende Seherin haben: "Auf daß die Verfolgten nicht Verfolger werden!" 

Foto: Skulpturengruppe von Sylvia Stuhr in der Gedenkkapelle Geesthacht: Hämisches Geschichtsverständnis


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