© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/05 03. Juni 2005

Niederlage der politischen Klasse
Frankreich: Das Nein zur EU-Verfassung zeigt, wie bedeutungslos die Links/Rechts-Unterscheidung geworden ist
Alain de Benoist

Das Votum, mit dem die Franzosen die EU-Verfassung ablehnten, ist ein historisches: 55 Prozent Nein-Stimmen gegen einen konfusen Text, der manches Gute enthalten mag, dessen allgemeine Ausrichtung jedoch inakzeptabel ist. Historisch ist es, weil sich hier von neuem und in eklatanter Weise die Kluft gezeigt hat, die das Volk derzeit von der politisch-medialen Klasse und von seinen vermeintlichen "Vertretern" trennt.

Am 28. Februar stimmten die französischen Senatoren und Abgeordneten der Nationalversammlung im Versailler Kongreßsaal mit 91,7 Prozent für die Ratifizierung des Verfassungsvertrags. Wäre der Entwurf in Frankreich lediglich dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt worden - wie in Italien, Deutschland oder Österreich geschehen -, er wäre klar angenommen worden.

Statt dessen lehnten ihn 55 Prozent der Wähler ab - bei einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent und einem Abstand von 2,5 Millionen Stimmen zwischen Befürwortern und Verfassungsgegnern. 90 Prozent einerseits, 55 Prozent andererseits: Die bloße Gegenüberstellung dieser beiden Zahlen zeigt, daß die Volksvertretung gar nichts mehr vertritt.

Sämtliche großen Parteien, von den Sozialisten (PS) bis zur UMP von Staatspräsident Jacques Chirac, hatten sich für die Verfassung ausgesprochen. Alle großen Zeitungen und Magazine, Radio- und Fernsehsender, alle großen Leitartikler, kurz gesagt: alle, die in Frankreich das Sagen haben und vorgeben, für die öffentliche Meinung zu sprechen, haben es ihnen gleichgetan. Dennoch haben sich die Verfassungsgegner durchgesetzt. So läßt sich die Diskrepanz zwischen den Sorgen der Bürger und dem Umgang der machthabenden Oligarchie mit diesen Sorgen ermessen.

Neben diesem Kontrast zwischen dem Volk und den Eliten tut sich - vor allem auf der linken Seite - ein weiterer Graben zwischen den Parteien und ihren Stammwählerschaften auf. Die PS, deren Führung die Verfassung befürwortet, ist von ihren Wählern massiv abgestraft worden (55 Prozent stimmten "Nein"). Noch schlechter erging es den Grünen (62 Prozent). PS-Chef François Hollande erlitt eine persönliche Niederlage, die nun seine Stellung bedroht. Ohne klare politische Linie oder unumstrittene Führungspersönlichkeit ist die PS für den Präsidentschaftswahlkampf 2007 schlecht gerüstet.

Der Zentrist François Bayrou (UDF) sprach nach dem Volksentscheid über die EU-Verfassung von einer "äußerst schweren französischen Krise". Das Referendum hat diese Krise nicht verursacht, aber es hat sie unübersehbar zutage treten lassen. Hierbei handelt es sich nicht nur um einen politischen, sondern auch um einen soziologischen Bruch. Die Wahlanalyse zeigt, daß 60 Prozent der Jungwähler, 80 Prozent der Arbeiter und 60 Prozent der Angestellten "Nein" stimmten. Anders als beim Volksentscheid über den Maastricht-Vertrag 1992 waren 56 (damals 38) Prozent der im mittleren Management Beschäftigten gegen die Verfassung. Lediglich das Großbürgertum, die höheren Führungsschichten, die Nichterwerbstätigen und Rentner stimmten mehrheitlich dafür. Daß ein bedeutender Teil der Mittelschicht ins Lager der Neinstimmen wechselte, ist eine neue Entwicklung.

Was die Kluft zwischen Rechten und Linken angeht, erweist sie sich wieder einmal als vollkommen obsolet, denn auf beiden Seiten gab es Verfassungsgegner wie -befürworter. Letztere haben verlautbart, im Gegensatz zur heterogenen Opposition sei das "Ja" bürgerlicher Rechter wie von Ex-Präsident Valéry Giscard d'Estaing oder UMP-Chef Nicolas Sarkozy mit jenem von Sozialisten wie Hollande oder Ex-Premier Lionel Jospin "kompatibel". Das zeigt, wie bedeutungslos die Unterscheidung zwischen Linken und Rechten geworden ist!

Die bemerkenswerteste Beobachtung unmittelbar nach der Abstimmung war jedoch, daß die politisch-mediale Klasse, die sich ihres Sieges zunächst sicher gewesen war, aus der Niederlage keinerlei Lehren gezogen hat. Statt eigene Fehler einzugestehen, bereut sie nur bitterlich, die Entscheidung über die Verfassung dem Volk überlassen zu haben, sprich: direkte Demokratie ausgeübt zu haben. Daraus zieht sie offensichtlich den Schluß, daß das Volk so wenig wie möglich zu Rate gezogen werden sollte, da sein "unvorhersehbares" Verhalten stets eine Gefahr ausgeht.

Chirac, der sich persönlich mächtig für die Verfassung ins Zeug legte und damit riskierte, die Gegner seiner Politik in ihrer Ablehnung zu bestärken, hat sich darauf beschränkt, eine Regierungsumbildung anzukündigen und Innenminister Dominique de Villepin zum neuen Premierminister zu ernennen. Dabei mußte er eine unglaubliche Schlappe hinnehmen, und ähnlich wie Silvio Berlusconis oder Gerhard Schröders befindet sich seine Popularität im freien Fall. Kein Wunder, daß ein prominenter Verfassungsgegner wie der Konservative Philippe de Villiers vorgezogene Neuwahlen fordert und dabei Bertolt Brecht paraphrasiert, es gebe in einer solchen Lage nur zwei Lösungen: die Regierung auszutauschen oder das Volk auszutauschen!

Was hier aufscheint, ist dem Soziologen Jean Baudrillard zufolge "die Fehlbarkeit des Prinzips der repräsentativen Demokratie selber, insofern als die repräsentativen Institutionen keineswegs mehr im 'demokratischen' Sinn funktionieren, das heißt von dem Volk und den Bürgern hin zur Macht, sondern genau umgekehrt, von der Macht zur Basis". Nichtsdestotrotz hat sich an dem Verfassungsentwurf zum ersten Mal seit Jahren eine echte Debatte entzündet - in der das Internet beispielhaft gegen die offizielle politische Linie als Informationsquelle zum Einsatz kam. Daß in den Wochen vor der Abstimmung mehr als eine Million Bücher zum Verfassungstext verkauft wurden, zeugt von der Breite dieser Diskussion.

Das französische Volk hat am 29. Mai eine Entscheidung gefällt, die wie eine demokratische Erhebung anmutet. Es hat von seinem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch gemacht, um seinen Pessimismus und seinen Ärger auszudrücken. Es hat sich nicht gegen Europa ausgesprochen, sehr wohl aber gegen die derzeitige Ausrichtung der EU. In vielen Fällen war sein "Nein" ein "pro-europäisches Nein", wie der Sozialist Jean-Luc Mélanchon sagte: eine Absage an das, was seit Jahren als "Reich des Guten" präsentiert wird, eine Absage an das technokratische Europa und die liberale Globalisierung. Dieses "Nein" schließt nicht aus, daß die Franzosen in Zukunft "Ja" zu einem anderen Europa sagen. Eine weitere Lehre aus diesem Abstimmungsergebnis ist, daß der Sieg der Verfassungsgegner nicht zustande gekommen wäre ohne die Addition des "rechten" zum "linken Nein". Darüber lohnt es sich nachzudenken.


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