© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/05 20. Mai 2005

NS-Zeit statt Literatur
Schullektüre Reich-Ranicki
Thorsten Thaler

Nach den von der Tageszeitung Die Welt und der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte kürzlich präsentierten Ergebnissen eines Wissenstests - ermittelt bei einer Befragung von 1.087 repräsentativ ausgewählten Männern und Frauen aller Altersgruppen und Bildungsschichten - kennt nur jeder zweite Deutsche (48,6 Prozent) unter 24 Jahren den Begriff "Holocaust" bzw. kann sagen, was man darunter versteht.

Der ZDF-Haushistoriker Guido Knopp nennt diesen Umfragewert "alarmierend" und verlangt nach "neuen Anstrengungen in der historisch-politischen Bildung". Demgegenüber meint der Historiker und Hitler-Biograph Joachim Fest, Jugendliche wüßten so wenig über das Dritte Reich, "weil in Deutschland zu viel darüber geredet wird, nicht, weil zu wenig darüber geredet wird". Wer in den letzten Wochen des überschießenden Gedenkens und Erinnerns an das Kriegsende vor sechzig Jahren mit Jugendlichen jenseits von Kameras und Mikrofonen gesprochen hat, wird mühelos feststellen: Fest hat recht!

Allein, es will niemand auf ihn hören. Guido Knopp nicht, und auch sonst niemand. Nicht nur in den Medien, auch in den Oberschulen hat die Beschäftigung mit der NS-Zeit inzwischen ein Ausmaß erreicht, das alle Dimensionen sprengt - und fast zwangsläufig zu einem Überdruß bei den Schülern führen muß.

Volkspädagogen kümmert das indes wenig. Jüngstes Beispiel für deren Ignoranz ist ein soeben erschienener "Auswahlband für die Schule". Das von Volker Hage, Kulturredakteur des Spiegel, herausgegebene und kommentierte Buch enthält jene Kapitel aus Marcel Reich-Ranickis 1999 veröffentlichter Autobiographie "Mein Leben", in denen der Literaturkritiker die Zeit zwischen 1933 und 1945 schildert. Nach Angaben des Verlages (dtv) soll es Lehrern und Schülern der gymnasialen Oberstufe als Lesebuch und Materialienband im Deutsch- und Geschichtsunterricht dienen.

Das pralle Leben des heute fast 85jährigen jüdischen Intellektuellen Reich-Ranicki, der mit seiner Frau Teofila das Warschauer Ghetto überlebt hat, wird also auf zwölf NS-Jahre reduziert, auf daß Schüler - statt sich mit Literatur zu beschäftigen - nun auch im Deutschunterricht die Vergangenheit "bewältigen" sollen. Auf den nächsten Wissenstest darf man gespannt sein.


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