© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/05 20. Mai 2005

Aufstand gegen die Eliten
Absage an den Liberalismus: Am 29. Mai stimmen die Franzosen über die EU-Verfassung ab
Alain de Benoist

Nachdem über zwanzig Meinungsumfragen der letzten Wochen den Gegnern der europäischen Verfassung einen wachsenden Vorsprung bescheinigten, scheinen ihre Befürworter nun wieder Boden gutzumachen. Die Chancen stehen gut, daß letztere bei dem für den 29. Mai angesetzten Volksentscheid den Sieg davontragen werden, sind ihre Mittel doch denen der Verfassungsgegner überlegen. Daß fast vierzig Prozent der Franzosen bislang unentschieden sind, dürfte ihnen ebenfalls zugute kommen. Doch egal, ob am Ende das "Nein" oder das "Ja" überwiegt, man kann davon ausgehen, daß das Abstimmungsergebnis knapp ausfallen wird, und schon dies ist vielsagend.

Die Breite und Schärfe der in Frankreich um dieses Thema geführten Debatte mag ausländische Beobachter ebenso überraschen wie die Verteilung der Kräfte auf beiden Seiten. Deutschland und Italien haben den Text auf parlamentarischem Weg angenommen, ohne daß in den Medien, die den europäischen Einigungsprozeß mehrheitlich befürworten, jemals eine wirkliche Debatte darüber geführt worden wäre. In Spanien, wo die europäische Idee ebenfalls massive Unterstützung findet, fand ein Volksentscheid statt, bei dem erwartungsgemäß die Verfassungsbefürworter mit siebzig Prozent der abgegebenen Stimmen einen haushohen Sieg davontrugen (allerdings enthielten sich sechzig Prozent der eingetragenen Wähler der Stimme).

In Frankreich riefen die Inhalte des zur Abstimmung vorgelegten Textes sofort eine innenpolitische Debatte hervor. Jacques Julliard von der linken Wochenzeitung Le Nouvel Observateur schrieb sehr zutreffend: "Viele Franzosen werden Nein antworten, aber sie denken: 'Scheiße!'" Weiter heißt es: "Die Franzosen sind dabei, aus der Debatte um den Volksentscheid einen allgemeinen Aufstand zu machen, nicht bloß gegen die gesetzliche Regierung, sondern gegen all die Einzelregierungen, die Frankreich untereinander aufteilen. In einem Wort, gegen die Eliten."

Es ist wohl wahr, daß sich das "Nein" aus allen möglichen Unzufriedenheiten speist, und dies erklärt seinen heterogenen Charakter. Dennoch kann man die Verfassungsgegner in zwei große Kategorien einteilen. Zum einen gibt es die Parteigänger des souveränistischen "Nein", in dem sich die Angst vor einem endgültigen Verschwinden der Souveränität oder der nationalen Identität ausdrückt. Diese Position vertreten Nicolas Dupont-Aignan, Philippe de Villiers oder Jean-Marie Le Pen, der über den Verfassungsentwurf sagte: "Das ist Frankreichs Tod." Aus diesem "Nein" spricht häufig (aber nicht immer) eine Ablehnung der Vorstellung von einem supranationalen Europa an sich.

Das andere "Nein" ist vor allem eine Absage an den liberalen Gehalt der Verfassung. Seine Vertreter lehnen im allgemeinen Europa keineswegs ab, wollen jedoch nicht, daß es sich eine Verfassung gibt, die den Wirtschaftsliberalismus in den Rang einer offiziellen Religion erhebt.

Derzeit finden sich unter den Anhängern aller politischen Richtungen sowohl Gegner als auch Befürworter der Verfassung, allerdings in unterschiedlichen Anteilen. Auf der Linken lehnt eine Mehrheit sie ab - und wendet sich damit gegen die Position der Sozialistischen Partei -, während die bürgerlichen Rechten der Stimmungsmache souveränistischer Kreise zum Trotz mehrheitlich mit "Ja" stimmen wollen.

Jedoch tut sich eine zweite, zweifelsohne tiefere Kluft auf: Zum "Ja" neigen vor allem die Eliten, die Neue Klasse der Politiker und Meinungsmacher und die Angehörigen der höheren gesellschaftlichen Schichten. Die "einfachen Leute" des France d'un bas ("Frankreich von unten"), die schon heute unter Arbeitslosigkeit (aktuell zehn Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung), gesellschaftlichem Ausschluß, der Unsicherheit und Flexibilität des Arbeitsmarktes leiden und sehr genau wissen, daß sie morgen zu den Hauptopfern der Globalisierung zählen werden, wollen mehrheitlich "Nein" stimmen.

Den Verfassungsgegnern vorzuwerfen, "Europa abzustrafen", obwohl sie eigentlich nur die Regierung abstrafen wollten, greift zu kurz. Vielmehr haben viele Wähler angesichts der Konsequenzen einer Umsetzung liberaler Politiken auf nationaler Ebene begriffen, daß der Verfassungsentwurf, den man ihnen zur Abstimmung vorlegt, lediglich dasselbe in einem viel größeren Umfang bedeuten würde und somit noch katastrophalere Ergebnisse zeitigen würde. Mit anderen Worten ruft die Einführung europäischer Normen vor allem als ein Schritt auf dem Weg zur weltweiten Standardisierung im Namen des siegreichen Liberalismus Ressentiment hervor.

Verfassungen sind normalerweise kurze Texte. Diese aber besteht aus Hunderten von Seiten, die für Laien praktisch unleserlich sind. In der Vergangenheit dienten Verfassungen stets der Definition eines dauerhaften institutionellen Rahmens, innerhalb dessen sich das politische Spiel entfalten sollte. Mit der einzigen, bezeichnenden Ausnahme der sowjetischen Verfassung zielten sie niemals darauf ab, Ausrichtungen und Inhalte der Politik selber zu bestimmen, die ausschließlich den Entscheidungen des souveränen Volkes unterlagen. Der vorliegende Entwurf hingegen meißelt sie in Stein, insbesondere in Fragen der Wirtschafts- und Handels- sowie der Außen- und Verteidigungspolitik, und die Volker müssen sich unterwerfen, um zu vermeiden, daß ihre demokratischen Entscheidungen als verfassungsfeindlich eingestuft werden.

Statt Kooperation und Solidargemeinschaften zu stärken und Europa zu einer geschützten Macht in einer immer instabiler werdenden Welt zu machen, schreibt die Verfassung effektiv den "Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" fest, fordert die totale Liberalisierung von Dienstleistungen und die ebenso totale Freiheit des weltweiten Kapitalflusses, dekretiert die Unabhängigkeit (und damit die politische Verantwortungslosigkeit) der Zentralbank sowie die progressive Zurücknahme aller Beschränkungen für internationalen Handel und Investitionen im Ausland. Die Freiheit bildet nicht mehr das Fundament der Verfassung, sie verkommt zu einem bloßen Anhängsel des Marktes. Indem sie es den Erfordernissen der Nato - die laut Verfassungstext "für die ihr angehörigen Staaten weiterhin das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung und die Instanz für deren Verwirklichung" - sowie jenen des Weltmarktes ausliefert, entwaffnet die Verfassung Europa, statt es zu stärken.

Die Verunsicherung ist um so akuter, als das soziale Klima sich in den letzten Jahren unablässig verschlechtert hat. Jüngst hat eine Studie festgestellt, daß etwa ein Drittel der Franzosen - ein ungeheurer Anteil - in Armut, großen finanziellen Schwierigkeiten oder sozialem Elend lebt, während die Profite der Unternehmen stetig zunehmen.

Nichts versinnbildlicht diesen Kontrast besser als die an den Industriellen Daniel Bernard gezahlte Abfindung in Höhe von 38 Millionen Euro - das entspricht 2.514 Jahren Sozialhilfesatz - nach seiner Entlassung als Chef der Kaufhauskette Carrefour, während den Angestellten des Konzerns seit Monaten eine Gehaltserhöhung verweigert wird.

Jahrzehntelang ist Europa als Lösung der Probleme seiner Bürger dargestellt worden. Mittlerweile trägt es nicht nur zu diesen Problemen bei, sondern droht einen konstitutionellen Rahmen für ihre Verschlimmerung zu schaffen. Die Menschen merken, daß die Europäische Union, je größer sie wird, um so weniger imstande ist, Politik zu machen, ohne sich in die Logik des Marktes zu flüchten oder Kompromisse zu schließen, die niemanden zufriedenstellen. Sie sehen, wie statt einer Macht Europa eine völlig ungeschützte Freihandelszone entsteht, die heute unfähig ist, der Marktschwemme durch chinesische Textilien Einhalt zu gebieten, und morgen ohnmächtig sein wird, das Sozialdumping innerhalb Europas und die Standortverlagerungen in Nicht-EU-Länder mit ihren Negativfolgen für die europäische Lohnentwicklung unter Kontrolle zu bringen. Ihr "Nein" zur Verfassung ist in Wirklichkeit ein "Nein" zur Globalisierung.

Ihre Haltung ist also keineswegs Ausdruck einer grundsätzlichen Ablehnung aller europäischen Institutionen. Zur Veranschaulichung mag die Stellungnahme der Politologin Chantal Delsol dienen, einer langjährigen Fürsprecherin des europäischen Föderalismus, die sich dennoch gegen die Verfassung ausgesprochen hat, weil sie sich weigere, zuzusehen, wie die Europäische Union sich verwandelt in "eine riesige Republik nach französischem Vorbild, die sich durch Zentralismus und Undurchschaubarkeit auszeichnet".

An der Wurzel dieses ganzen Unbehagens stößt man auf die grundsätzliche Frage nach den Zwecken des europäischen Einigungsprozesses. Ein Europa, das als autonome Macht einen regulierenden Einfluß auf die Globalisierung ausüben wollte, das den Nationalstaaten gewisse Vorrechte in der Frage ihrer Souveränität nur abspräche, um sie auf eine höhere politische Ebene zu verlagern und ihnen damit größeres Gewicht zu geben, schließlich ein Europa, in dem die notwendige Angleichung der Sozial- und der Steuergesetzgebung nach oben statt nach unten geschähe - durch mehr Verteilungsgerechtigkeit und Solidarität statt durch Wettbewerb und Standortverlagerungen - ein solches Europa würde bei der Mehrheit der Bürger auf Zustimmung stoßen.

Momentan geht die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung. Wie auch immer die Volksabstimmung in Frankreich ausgeht, ein politisches Europa wird vorerst nicht entstehen.

 

Alain de Benoist , französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeischrift "Eléments" sowie Chefredakteur der Zeitschriften "Nouvelle Ecole" und Krisis".

Plakate der Kommunistischen Partei: Ein Europa, das die Globalisierung regulierend beeinflußte, würde bei den Bürgern auf Zustimmung stoßen


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen