© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/05 13. Mai 2005

Moderne Sklaverei für Deutsche
Mehrere hunderttausend Zivilisten wurden 1945 von den Sowjets verschleppt / Ihr Schicksal hat in der Erinnerung nur einen marginalen Platz
Werner Pfeiffer

Bereits während an der Oderfront die letzten deutschen Reserven zusammengezogen werden und im Westen eine Stadt nach der anderen von den Alliierten in Schutt und Asche gelegt wird, rollen aus Ost- und Westpreußen, Pommern, Brandenburg und Schlesien Transportzüge mit Frauen, Jugendlichen und alten Männern nach Osten, einem ungewissen Schicksal entgegen. Genaue Zahlen über die Verschleppten gibt es bis heute nicht. Schätzungen schwanken zwischen 400.000 und 650.000. Nur in einem sind sich Fachleute einig: Mehr als die Hälfte dieser Menschen hat die anschließende Zwangsarbeit nicht überlebt.

Es ist ein Thema, über das man bis zur Wende "in der DDR nicht reden durfte und im Westen nicht reden wollte" (Alexander Fischer). Wenige der Heimgekehrten haben es trotzdem geschafft, ihre Erlebnisse zu veröffentlichen. Einer der ersten war Herbert Mitzka, der bereits 1982 sein schmales Büchlein "Meine Brüder hast du ferne von mir getan" in einem kleinen Verlag herausbrachte. Mit präziser Beobachtungsgabe erzählt er, wie er als 14jähriger von Mohrungen in Ostpreußen zuerst in tagelangen Fußmärschen, dann per Bahn mit seinen Leidensgenossen in den südlichen Ural ins Lager Slatoust gelangte. Glück im Unglück hatte er, weil er für sein Alter recht klein geraten war. So erweckte er bei den sowjetischen Bewachern ein gewisses Mitleid, brauchte nicht so schwere Zwangsarbeit zu leisten und wurde schon frühzeitig wieder auf Heimtransport geschickt.

Verschleppungen von allen Alliierten in Jalta abgesegnet

Wichtiger als Herbert Mitzkas eindringlicher Bericht über seine Erlebnisse ist seine 1985 erschienene kleine Broschüre "Zur Geschichte der Massendeportationen von Ostdeutschen in die Sowjetunion im Jahre 1945". Damit rührte er an einem Tabu, das sich bis heute hartnäckig behauptet. Während weithin der Irrglaube vorherrscht, die westlichen Verbündeten Stalins hätten von den Massenverschleppungen Deutscher nichts gewußt oder sie zumindest mißbilligt, deckte Mitzka auf, daß diese "Wiedereinführung der Sklaverei" (Alfred de Zayas) von Churchill, Roosevelt und Stalin in Jalta am 11. Februar 1945 beschlossen wurde. Diese Tatsache wird bis heute in der Zeitgeschichtsschreibung, insbesondere aber in den Medien, weitestgehend mit einem Mantel des Schweigens bedeckt.

Nun sollten zwar für die Arbeit als "Reparationsverschleppte" (eine Wortschöpfung von Herbert Mitzka) nur "kleine Kriegsverbrecher" und "aktive Nazis" herangezogen werden, aber derlei Delinquenten waren in den deutschen Ostgebieten nur mit Aufwand aufzutreiben. Also holten sich die sowjetischen Greifkommandos ihre Opfer aus den Häusern oder willkürlich von der Straße. Eine politische oder militärische Vergangenheit oder gar der Nachweis von Kriegsverbrechen waren dabei völlig nebensächlich. Nur der Anschein der Arbeitstauglichkeit genügte. Auch wurden die Verschleppten nicht, wie in Jalta festgelegt, zum "Wiederaufbau der von den Deutschen zerstörten Gebiete der Sowjetunion" eingesetzt, sondern fanden sich in Sibirien, in Bergwerken des Ural oder beim Eisenbahnbau im hohen Norden der UdSSR wieder, wo der Krieg nie hingekommen war.

In den ersten Jahren nach der Wende fanden endlich etliche der 1945 Verschleppten Verlage, die bereit waren, ihre Erinnerungen an die furchtbare Zeit der Zwangsarbeit zu veröffentlichen. Eva-Maria Stege mit ihrem Buch "Bald nach Hause - skoro domoi" gehörte zu den ersten. Weitere Titel waren "Du sollst nicht sterben" von Ursula Seiring oder "Mein weiter Weg nach Sechselbach" von Anneliese Bender. Helene von Avenarius, die sogar schon 1988 einen Verlag fand, nannte ihr Buch euphemistisch "In Sibirien schmückten wir uns mit Blumen".

Wenige Jahre später fand das Thema Verschleppungen bei den Lektoren keinen Anklang mehr. Wer jetzt noch etwas über diese Zeit veröffentlichen wollte, war in der Regel auf den Selbstverlag angewiesen. So verschieden die Ansätze der einzelnen Erzähler und Erzählerinnen und die Schauplätze ihrer Sklavenarbeit auch sind - die Schilderungen gleichen sich. Vielfache Vergewaltigungen in der Heimat, menschenunwürdige Transportbedingungen, Hunger, Seuchen, erbarmungslose Antreiberei durch viel zu hohe Arbeitsnormen, gelegentliche Lichtblicke durch hilfsbereite Mitgefangene oder Einheimische, der unbändige Wille zum Überleben und schließlich - oft erst nach vielen Jahren - die Heimkehr, die Suche nach den inzwischen vertriebenen Angehörigen. Viele der Heimgekehrten trugen bleibende gesundheitliche Schäden davon.

Die 1945 aus Deutschland Verschleppten waren nicht die einzigen deutschen Zivilisten, die in die Sklaverei gezwungen wurden. Bereits im Herbst, nach der Kapitulation Rumäniens, mußten Zehntausende von Volksdeutschen aus Siebenbürgen und dem Banat den Weg nach Rußland antreten. Ihnen wurde wenigstens gestattet, sich mit ausreichend Kleidung und Verpflegung auszurüsten, ehe auch sie in Güterwagen gepfercht und nach Osten in Marsch gesetzt wurden. Das Buch "Allein die Hoffnung erhielt uns am Leben" von Hedwig Stieber-Ackermann schildert das Schicksal der damals 18jährigen Abiturientin und ihrer Leidensgefährtinnen auf eindrucksvolle Weise. Um überhaupt einen Verlag zu finden, mußte die Autorin auf ein Honorar verzichten.

Gesundheitliche Schäden nicht als Kriegsfolgen anerkannt

Und im Januar 1947 gab es den sogenannten "Pelzmützentransport" aus den Lagern in der Sowjetischen Besatzungszone. Werner Teltow brachte 2002 sein Buch mit Berichten von Überlebenden heraus. Der Regisseur Dirk Jungnickel drehte mit vier der damals noch Jugendlichen den Film "Wir waren schon halbe Russen". Dieser Film kam nie in die Kinos oder ins Fernsehen, anders als Freya Kliers "Verschleppt ans Ende der Welt", in dem sie die Schicksale verschleppter Frauen schildert. Dieser Film wurde allerdings ins Nachtprogramm verbannt, so daß ihn nur wenige Zuschauer sehen konnten.

Nach der Entlassung endete der Leidensweg keineswegs immer. Die meisten Verschleppten wurden in die SBZ oder später in die DDR entlassen. Dort galten sie als "Umsiedler" und durften über ihre Erlebnisse nicht sprechen. Eva-Maria Stege erfuhr nach der Wende aus ihren Stasi-Akten, daß die Ärzte und Psychologen, denen sie sich traumatisiert anvertraut hatte, Stasi-Spitzel waren. Und Charlotte Kaufmann, die als 16jährige aus Ostpreußen verschleppt wurde, mußte sich von ihren eigenen Kindern sagen lassen: "Ihr wart ja selbst schuld. Warum habt ihr den Hitler gewählt?"

Bis heute haben die "Reparationsverschleppten" keinerlei Entschädigung erhalten. Und ihre gesundheitlichen Schäden werden nicht als Kriegsfolgen anerkannt. Viele Frauen, inzwischen im Rentenalter, leben in Armut. Da der Staat sich nicht um sie kümmert, hat der Bund der Stalinistisch Verfolgten (BSV) in Berlin zu Spenden aufgerufen, um diese Frauen zu unterstützen.

Foto: Deutsche Zwangsarbeiter 1948 im sowjetischen Arbeitslager: Bis heute haben die Verschleppten keinerlei Entschädigung erhalten

 

Werner Pfeiffer hat die Verschleppung als Jugendlicher selbst miterlebt und seine Erlebnisse in dem Buch "Mit 15 in die Hölle" festgehalten. Kurz vor Redaktionsschluß erreichte uns die traurige Nachricht, daß Werner Pfeiffer am 1. Mai im Alter von 75 Jahren gestorben ist.


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