© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/05 13. Mai 2005

"Letzte Hoffnung für Deutschland"
Der Jurist Karl Schachtschneider über seine für Peter Gauweiler formulierte Klage in Karlsruhe gegen die EU-Verfassung
Moritz Schwarz

Herr Professor Schachtschneider, am 25. April haben Sie als Verfahrensbevollmächtigter Peter Gauweilers versucht, durch Organklage, Verfassungsbeschwerde und Antrag auf einstweilige Anordnung die zweiten und dritten Lesung des Verfassungsvertrages für Europa im Deutschen Bundestag unterbinden zu lassen.

Schachtschneider: Leider ohne Erfolg, aber nicht das Anliegen in der Sache, sondern nur die spezifischen und ungewöhnlichen Anträge sind abgelehnt worden. Nach der Beschlußfassung des Bundesrates am 27. Mai - der Bundestag wird dem Verfassungsvertrag am Donnerstag erwartungsgemäß zustimmen - werden wir erneut beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Klage erheben.

Ist es überhaupt möglich, dem Bundestag das Debattieren zu verbieten?

Schachtschneider: Das Debattieren nicht, aber kein Verfassungsorgan darf jenseits seiner Befugnisse Beschlüsse fassen, schon gar nicht, wenn seine Beschlüsse staatswidrig sind.

Wie weit sehen Sie diese Befugnisse mit der Debatte als überschritten an?

Schachtschneider: Der Verfassungsvertrag wird einen europäischen Bundesstaat schaffen und die existentielle Staatlichkeit Deutschlands weitgehend einschränken. Diesen Schritt kann nur das deutsche Volk selbst gehen. Darum ist die Lesung eines Gesetzes, das dem Vertrag zustimmt, verfassungs-, ja staatswidrig.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Organklage abgewiesen und die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Schachtschneider: Recht haben und recht bekommen sind zwei Paar Stiefel. In der Rechtslehre ist unsere Ansicht zu den Rechten des Abgeordneten, verfassungswidrige Abstimmungen abzuwehren, gut vertreten, zum Beispiel von Theodor Maunz.

Welche Chancen sehen Sie für Ihre erneute Verfassungsbeschwerde Ende Mai?

Schachtschneider: Ich bin zuversichtlich. 1993 wurde die Verfassungsbeschwerde, die ich für den damaligen FDP-Politiker Manfred Brunner gegen den Vertrag von Maastricht geschrieben hatte, als einziger von dreiundzwanzig Anträgen zugelassen. Erfolg hatte sie nach den Urteilsgründen, die auch Verbindlichkeit entfalten, gut zur Hälfte.

Die Verfassungsrichter waren im Maastricht-Prozeß der Meinung, die Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union habe "noch nicht" die Grenze überschritten, welche das demokratische Prinzip zieht.

Schachtschneider: Im Falle des Verfassungsvertrages, den wir jetzt auf den Prüfstand des Gerichts legen, kann sich niemand der Erkenntnis verschließen, daß die Grenze überschritten wird, welche das demokratische Prinzip der Übertragung von Hoheitsrechten an die Union zieht. Meiner Meinung nach ging schon der Maastricht-Vertrag zu weit, insbesondere durch die Begründung der Währungsunion.

Wie erklären Sie sich dann die damalige Entscheidung des Gerichts?

Schachtschneider: Bei aller Unabhängigkeit haben Gerichte auch eine apologetische Funktion für die Politik.

Wie können Sie dann diesmal im Ernst an einen Erfolg glauben angesichts der Tatsache, daß die Integration und damit die EU-Verfassung "das" historische Anliegen der politischen Klasse nicht nur in Deutschland schlechthin ist?

Schachtschneider: Ich bin nicht so naiv, zu erwarten, daß die Klage vollen Erfolg haben wird. Aber das Bundesverfassungsgericht hat die große Verantwortung für die Freiheit, das Recht und den Staat, und ich hoffe, es wird dieser Verantwortung gerecht werden.

Wann rechnen Sie mit einer Entscheidung?

Schachtschneider: 1993 hat das Verfahren ein knappes Jahr benötigt. Ich rechne auch diesmal mit einer ähnlichen Verfahrensdauer.

Den Knackpunkt sehen Sie in der Übertragung der Hoheitsrechte?

Schachtschneider: Vorweg möchte ich auf einen signifikanten Aspekt hinweisen: die Sprache des Vertrages. Bisher haben die Verträge die Sprache des Völkerrechts benutzt, die Sprache also, in der Staaten miteinander verkehren. Der Verfassungsvertrag dagegen spricht die Sprache des Staatsrechts, also die Sprache, in der ein Staat verfaßt wird. Es geht folglich nicht mehr um den Verbund von Staaten, sondern um die Integration zu einem Staat.

Der Vertragstext umfaßt etwa 500 Seiten. Welche Passagen enthalten diesen integrativen Charakter?

Schachtschneider: Der gesamte Vertrag und die ebenfalls verbindlichen Nebentexte, nämlich Protokolle, Erklärungen usw. Der Vertrag macht nun wirklich den Schritt über den Rubikon vom europäischen Staatenverbund zum europäischen Bundesstaat.

Dennoch wird die EU aber im Moment des Inkrafttretens der Verfassung im November des Jahres 2006 noch nicht zu einem Staat?

Schachtschneider: Der Staatsbegriff ist schwierig und muß differenziert werden. Die Union ist bereits funktional und institutionell ein Staat. Sie verfügt über Aufgaben und Befugnisse existentieller Staatlichkeit, ist aber noch kein existentieller Staat; denn dafür bedarf es wegen des demokratischen Prinzips eines als Staat verfaßten Volkes. Die Unionsbürger sind aber kein Volk.

Das ist schwer verständlich.

Schachtschneider: Der Verfassungstext regelt die Organisation eines Bundesstaates. Er beschreibt typisch die bundesstaatlichen Zuständigkeiten, nämlich ausschließliche Zuständigkeiten etwa für die Währungsunion und die Handelspolitik, und geteilte Zuständigkeiten für fast alle Bereiche des Lebens, insbesondere den Binnenmarkt, die Sozial-, die Wirtschafts-, die Umweltpolitik, den Verbraucherschutz, die Verkehrs-, die Energiepolitik und insbesondere für die Justiz- und Polizeipolitik, nämlich den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Das heißt nicht, daß die bisherigen Nationalstaaten, also die Mitgliedstaaten zugunsten der Union verschwinden, aber diese werden in ihren existentiellen Staatsfunktionen, welche nicht von den Völkern getrennt werden dürfen, wesentlich beschnitten.

Ist es denn verfassungsrechtlich möglich, daß neben der Bundesrepublik Deutschland ein weiterer Staat im Geltungsbereich des Grundgesetzes besteht?

Schachtschneider: Nach dem Grundgesetz geht in Deutschland alle Staatsgewalt vom deutschen Volke aus. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht immer darauf bestanden, daß die Europäische Union kein Staat, kein Bundesstaat sei.

Warum? Schließlich existieren im Geltungsbereich des Grundgesetzes mit den Ländern durchaus weitere Staaten.

Schachtschneider: Die deutschen Länder sind existentielle Staaten im Bundesstaat Deutschland, legitimiert von den Landesvölkern. Deutschland ist ein unechter Bundesstaat, weil er durch eine Bundesverfassung, nicht durch Vertrag der Länder geschaffen ist. Die Staatseigenschaft der Länder wird im übrigen durch den Verfassungsvertrag beendet. Sie bleiben lediglich regionale Selbstverwaltungen. Das ist mit der deutschen Bundesstaatlichkeit schlechterdings unvereinbar.

Zurück zur Hauptargumentation der Klage: der "begrenzten Ermächtigung".

Schachtschneider: Die Integration zum vereinten Europa hat ihre Grundlage in Artikel 23 des Grundgesetzes. Danach kann der Bund durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen. Diese Übertragung von Hoheitsrechten darf aber das demokratische Prinzip nicht verletzen, so daß die Übertragung auf Ermächtigungen begrenzt ist, die eine voraussehbare und dadurch durch den Deutschen Bundestag verantwortbare Politik der Union ermöglichen, mehr nicht. Dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung steht die Weite und Offenheit der Ermächtigungen entgegen, aber auch die Fülle der Ermächtigungen, welche insgesamt eine nicht voraussehbare Politik ermöglicht. Hinzu kommen generelle Vertragsänderungsmöglichkeiten der Union, nicht nur eine Flexibilisierungsklausel, sondern ein vereinfachtes Änderungsverfahren, aber auch die Möglichkeit, sich aufgrund neuer "Kategorien" Mittel zu verschaffen, also europäische Steuern zu erheben. Die Union wird nach dem Verfassungsvertrag über eine weitgehende Kompetenz-Kompetenz verfügen.

Wie kann der Staat überhaupt Hoheitsrechte endgültig abgeben, ohne die Rechte des Souveräns, also des Volkes, zu verletzen, von dem er seine Staatsgewalt ja nur "geliehen" hat?

Schachtschneider: Die Hoheitsrechte werden nicht endgültig übertragen. Die Völker bleiben Herren der Verträge. Jeder Mitgliedstaat kann ausscheiden und daraufhin seine Hoheit uneingeschränkt selbst ausüben. Das ist die Rechtslage, die das Maastricht-Urteil bestätigt hat. Politisch ist ein Ausscheiden wenig real. Die Hoheitsrechte werden zur gemeinschaftlichen Ausübung übertragen und nicht wie Eigentum aufgegeben. Freilich ist diese Dogmatik umstritten.

Die Grundgesetzwidrigkeit der EU-Verfassung liegt also nicht in einzelnen Artikeln, sondern in der Masse ihrer Bestimmungen?

Schachtschneider: So ist es, aber auch viele Einzelbestimmungen genügen nicht dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung.

Können Sie bitte ein Beispiel nennen?

Schachtschneider: Beispiele gibt es in der Innen-, der Wirtschafts-, der Verteidigungs- und der Rechtspolitik. Der Europäische Gerichtshof interpretiert etwa die Grundfreiheiten, also die Warenverkehrs-, die Dienstleistungs-, die Niederlassungs- und die Kapitalverkehrsfreiheit derart weit, daß die Wirtschaftsordnung Deutschlands gänzlich umgewälzt wird, nämlich von einer marktlichen Sozialwirtschaft in eine neoliberale Kapitalwirtschaft. Nach Artikel IV-445 des Verfassungsvertrages können darüber hinaus durch Beschluß des Europäischen Rates, also durch die Staats- und Regierungschefs in Verbindung mit den Präsidenten des Rates und der Kommission die Vertragsbestimmungen für die Wirtschaft einschließlich der Währungsunion, aber auch die für die Polizei und die Justiz verändert werden, ohne daß darüber noch die nationalen Parlamente oder gar die Völker abzustimmen hätten. Man will dafür weder das umständliche Konventsverfahren durchführen noch die Parlamente und schon gar nicht die Völker befragen. Diese Kompetenz-Kompetenz ist verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar. Die Völker verlieren ihre Hoheit weitestgehend an die EU-Bürokratie. Zumindest diese Regelung wird das Bundesverfassungsgericht kassieren.

Dann halten Sie ein Scheitern der Gauweiler-Beschwerde doch für möglich?

Schachtschneider: Falls der Vertrag überhaupt vom Bundesverfassungsgericht akzeptiert wird, dann nur mit wesentlich verändertem Inhalt.

Besteht die Chance, die Verfassung durch einen erfolgreichen Volksentscheid zu stoppen? In Frankreich wird am 29. Mai abgestimmt, danach in den Niederlanden, in Luxemburg, Dänemark und Portugal, wahrscheinlich auch in Irland, Polen und der Tschechei. In Großbritannien voraussichtlich 2006.

Schachtschneider: Sollten die Dänen, Iren oder die Briten gegen den Vertrag stimmen, was zu erwarten ist, würde ein Europa mehrerer Geschwindigkeiten entstehen. Zwei unterschiedliche Kategorien der Mitgliedstaaten gibt es durch die Währungsunion ohnehin bereits. Vermutlich würde das politische Gewicht Frankreichs und Deutschlands, aber auch Italiens und der Beneluxstaaten, also Kerneuropas, einen solchen politischen und auch wirtschaftlichen Druck erzeugen, daß die Mitgliedstaaten, welche den Vertrag abgelehnt haben, diesen in einem zweiten Schritt doch akzeptieren. Frankreich ist wohl das einzige Land, das den Verfassungsvertrag noch verhindern kann.

Was geschieht, sollte tatsächlich eine Mehrheit der Franzosen gegen die Verfassung stimmen?

Schachtschneider: Dann wäre das Projekt auf lange Sicht gescheitert. Das beendet aber die europäische Integration nicht. Die Union würde nach den jetzigen Verträgen weiterarbeiten und gegebenenfalls die Kommission und den Rat neu gestalten. Das aber ist entgegen der öffentlichen Diskussion nicht wirklich wichtig.

Was meinen Sie konkret?

Schachtschneider: Sicher gäbe es auch Versuche, die Verfassung so zu überarbeiten, daß sie zwar im Kern nicht verändert, aber bei einer erneuten Abstimmung in Frankreich angenommen wird. Die Abstimmung der Franzosen hat nicht nur europapolitische, sondern auch innenpolitische Aspekte.

Sie meinen, daß so lange abgestimmt wird, bis das Ergebnis stimmt?

Schachtschneider: Das klingst zynisch, ist aber nicht auszuschließen. Diesen Weg ist man gegangen, als Irland den Nizza-Vertrag in einer Volksabstimmung abgelehnt hat. Zur zweiten Abstimmung sind die Iren mit einer außerordentlichen Propaganda für die Union überschwemmt worden. Die politische Klasse akzeptiert ein ablehnendes Referendum eines Volkes nur ungern, sondern meint, das Volk noch stärker "aufklären" zu müssen. Aufklärung wird dabei mit Propaganda verwechselt.

Bundeskanzler Schröder hat offen bekundet, daß Bundestag und Bundesrat auch deshalb noch im Mai die EU-Verfassung verabschieden müssen, um "ein positives Signal" nach Frankreich zu senden.

Schachtschneider: Der Kanzler hat das eingeräumt. Es ist fragwürdig, daß sich Deutschland in die Innenpolitik der Franzosen einmischt. Das zeigt zugleich, daß die Europäische Union längst ein Staat ist, den die Staats- und Regierungschefs gemeinsam führen. Es soll der Eindruck erweckt werden, daß die Deutschen begeistert hinter dem Verfassungsvertrag stehen. Könnte jedoch das deutsche Volk abstimmen, wäre die Zustimmung wie schon bei der Einführung des Euro mehr als fraglich.

Das heißt, Volkabstimmung hin und her, die EU-Verfassung kommt?

Schachtschneider: So kann es kommen. Ich sehe dennoch in der Verfassungsklage den einzigen Weg der Gegenwehr. Allemal ist es eine historische Pflicht, die Rechtmäßigkeit des Verfassungsvertrages vom Bundesverfassungsgericht prüfen zu lassen.

Und wenn die Klage scheitert?

Schachtschneider: Dann sind für Deutschland und auch für Europa die Würfel gefallen. Es wird schwer werden, Demokratie und Rechtsstaat wieder auf den Stand zu bringen, den sie hatten; denn beides setzt die kleine Einheit voraus. Die Verfassungsklage Peter Gauweilers ist gewissermaßen Deutschlands letzte Hoffnung.

 

Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider formulierte für den CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler die Verfassungsklage gegen die Annahme der EU-Verfassung durch Bundestag und Bundesrat. Der 1940 in Hütten in Pommern geborene Rechtsanwalt leitet den Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Universität Erlangen-Nürnberg. Schachtschneider formulierte bereits eine Vielzahl von Verfassungsklagen, darunter auch gegen den Vertrag von Maastricht und gegen die Einführung des Euro. Weitere Informationen unter: www.oer.wiso.uni-erlangen.de 

Jüngste Veröffentlichungen: "Res Publica Res Populi - Grundlagen der Republiklehre" (Duncker & Humblot, 1997) "Die Euro-Klage" (Rowohlt, 1998), "Die Euro-Illusion" (Rowohlt, 2001), "Rechtsfragen der Weltwirtschaft" (Duncker & Humblot, 2002)

 

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