© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Die Tür flog auf
Begegnung im Bayerischen Wald
Klaus Walch

Ende April 1945 waren meine Mutter, mein jüngerer Bruder und ich in einem Dorf auf einer Anhöhe des Bayerischen Waldes evakuiert. In den letzten Tagen des Monats war ein Trupp deutscher Soldaten (Waffen-SS), aus der Tschechoslowakei kommend, in dem Dorf nahe Bodenmais in Stellung gegangen, um sich gegen die im Tal heranrückenden Amerikaner zu verteidigen.

Die deutschen Soldaten kampierten hinter den Bauernhöfen im Wald. Abends wärmten sie sich in der Stube des Bauern, bei dem meine Familie eingewiesen worden war. Sie genossen die Wärme der Stube, aßen und hörten Radio. Unten im Tal kamen dann die Amerikaner. Eine unendlich scheinende Kette von Panzern und anderen Fahrzeugen.

Die nächsten Tage passierte nichts. Die deutschen Soldaten kampierten dicht hinter den Gehöften im Wald, und die Amerikaner waren unten im Hauptdorf. Plötzlich, an einem Morgen, begannen die deutschen Soldaten zu schießen. Ich war aus dem Haus gelaufen und sah, wie von unten mit großem Getöse ein Panzer langsam den Hang hochkam. Hinter dem Panzer lief US-Infanterie. Der Panzer hielt von Zeit zu Zeit und schoß hinten in den Wald. Als er fast oben angekommen war, begann auch sein Maschinengewehr zu schießen. Ich hatte mich voller Angst hinter Felsbrocken geworfen.

Deutsche Soldaten erwiderten das Feuer. Der Panzer hielt, der Motor heulte laut auf, die Luke öffnete sich, Soldaten sprangen heraus und wurden getroffen. Die Infanterie trat den Rückzug an. Kurze Zeit später begannen die im Hauptdorf stehenden Panzer mit ihrem Beschuß. Dieser war so heftig, daß die Amerikaner ungestört den beschädigten Panzer abschleppen konnten. Meine Mutter, wir Kinder und die Bauernfamilie lagen voller Angst im tiefgelegenen Stall in Deckung. Der Beschuß wiederholte sich in den nächsten Tagen.

Eines Morgens hörten wir im Radio, Deutschland habe bedingungslos kapituliert. Alle Zivilisten und Soldaten machten einen verstörten Eindruck. Als ich am nächsten Morgen, wie üblich, die Eßgeschirre der Soldaten in den Wald brachte, sah ich unter den Büschen erst einen und dann die anderen Soldaten, sie hatten sich in der Nacht erschossen. Neben einigen Toten lagen Bilder ihrer Familien.

Ich lief zurück zum Hof, wo es hieß, die Amerikaner kämen. Meine Mutter sagte, wir sollten uns in die Mitte unserer Unterkunft setzen, damit die Amerikaner die Ungefährlichkeit der Situation erkannten.

Bald hörten wir Geräusche unten im Haus. Dann ein lautes Poltern auf der Stiege. Die Tür flog auf, ein ziemlich kleiner US-Soldat stürmte herein. Sein Helm war zur Seite verrutscht, Strähnen seines blonden Haares hingen verklebt in seinem rot verschwitzten Gesicht. Seine Augen schauten angstvoll in der Stube umher. Das Gewehr, schußbereit in der Hand, richtete er auf meine Mutter, mich und meinen kleinen Bruder, zielte dann auf den Schrank, den er schnell öffnete und unter das Bett.

Bevor wir uns richtig versahen, war er wieder aus der Kammer hinaus und die Stiege hinunter. Wir waren, wie die heutige Sprachregelung lautet, befreit.

Klaus Walch, Nürnberg

Foto: Ein jüdischer Junge läuft nach der Befreiung im April 1945 durch das Konzentrationslager Bergen-Belsen


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