© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Vogelfrei
Als siebenjähriger Wachmann
Georg K. Schmelzle

Am 8. Mai 1945 wälzte sich unser Treck durchsetzt von deutschen Militärfahrzeugen am südlichen Riesengebirge entlang auf die Stadt Trautenau zu. Plötzlich sahen wir sowjetische Panzer übers freie Feld heranfahren. Die deutschen Kettenfahrzeuge brachen aus und versuchten einen Waldrand zu erreichen. Wir versteckten uns hinter einer Baumansammlung. Unsere Väter wurden nervös und entsicherten ihre Pistolen. Eine Tante brachte sie aber sehr schnell zur Vernunft. Die Männer wechselten darauf in Räuberzivil und flüchteten ins Gebirge. Diese kränkliche Pastorenfrau war schon 1938 aufgefallen, als sie ihr Parteibuch der "Sudetendeutschen Partei" zurückgab, als alle Mitglieder in die NSDAP übernommen wurden, nur nicht die Pastoren.

Als die Sowjets uns eingeholt hatten, begannen die Uhreneinsammlungen, die Plünderungen des Gepäcks und die Beschlagnahme von Fahrzeugen. Die Großfamilie wurde zerrissen. Mit einem geliehenen Handwagen flüchteten wir den Weg von Trautenau über Habelschwert im Glatzer Kessel und Mährisch-Schömberg nach Freudenthal zurück. Ich war der einzige "Mann" im Alter von noch nicht sieben Jahren unter Frauen und kleineren Kindern. Mit meiner Mutter spannte ich mich vor den kleinen Leiterwagen, mein dreijähriger Bruder war oben festgebunden, meine Schwester daneben und meine Tante schob. Abenteuerlich waren die Übernachtungen, bei denen ich immer "Wache schob" und vor der Soldateska warnen mußte. Beeindruckend fand ich die Hilfe durch Landsleute mit Verpflegung und Hilfe bei den Nachtlagern. Drastisch wurde mir klar, wie wir ohne den Schutz unserer Soldaten wehrlos und vogelfrei geworden waren.

Ich und meine Familie empfanden das Ende des Zweiten Weltkrieges nicht als "Befreiung" sondern als Absturz in die Schutzlosigkeit vor sowjetischen Soldaten, die uns und unseren Besitz als Beute betrachteten und unseren Müttern Gewalt antaten. Dieser Eindruck hat mich für mein weiteres Leben geprägt. 

Georg K. Schmelzle, Norden


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