© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Unerwartete Begegnung
Die Gefangenschaft beginnt mit einer Umarmung
Dieter Pfeiffer

Olbramowitz, 8. April 1945. Der letzte Brief, den meine Mutter vor dem Mai 1946 von mir erhalten hat:

"Meine liebe Mutti! Vor mir liegen Deine ersten drei Briefe aus Bad Kleinen vom 29. März, 30. März und 1. April. Habe recht herzlichen Dank dafür. Daß Du auch diesmal gut untergekommen bist, freut mich sehr für Dich. Ich habe noch nie an unserem Siege gezweifelt und tue es heute weniger als je zuvor. Wir werden siegen, glaube es mir. Ist die Kriegslage auch sehr ernst, so soll uns dies doch nicht den Glauben nehmen. Groß sind die Opfer unseres Volkes, größer werden sie noch werden, aber der Lohn wird der deutsche Sieg sein. Ich vertraue felsenfest auf unseren Führer. Wenn wieder unsere Stunde kommt, dann werden wir unsere Pflicht tun."

Seit dem Januar 1945 war die Jagdpanzer-Kompanie, in der ich Dienst tat, zur Neuaufstellung auf dem Truppenübungsplatz "Böhmen und Mähren" stationiert.

In den letzten Tagen des Krieges wurden wir schließlich alarmiert und in Richtung Prag in Marsch gesetzt, um mit unseren Panzern zu helfen, den dort ausgebrochenen Aufstand zu bekämpfen.

Allerdings kamen wir nur bis zur Prager Filmstadt, wo Einheiten der Wlassow-Armee und tschechische Partisanen wild um sich schossen. Unsere Einheit hatte bald kein Verbandszeug mehr zur Verfügung, und so konnten wir schließlich einen verwundeten Leutnant nicht mehr verbinden, weil wir alles Verbandsmaterial für verletzte Tschechen verbraucht hatten.

Während der Kämpfe in der Prager Vorstadt erreichte unsere Einheit die Nachricht von der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Der Zweite Weltkrieg war zu Ende. Ich kann mich noch heute gut daran erinnern, daß ich damals geweint habe.

Von Prag aus machten wir uns auf den Rückmarsch auf Winterberg in Bayern. Als Panzereinheit bildeten wir die Nachhut vor den nachrückenden Sowjets. Uns war vorgegaukelt worden, daß die Amerikaner uns bei Winterberg in ihre Gefangenschaft nehmen würden. Schon am 11. Mai sollten wir bei Milin unsere Ausrüstung die Panzer und das übrige Gerät an die Amerikaner übergeben. Wir waren dazu extra wie auf dem Appellplatz aufmarschiert.

Doch statt der Amerikaner kamen tschechische Partisanen, die wir mit unseren Waffen in die Flucht schlagen mußten. Beim Weitermarsch wurden wir schließlich von Einheiten der sowjetischen Division "Rote Fahne" umgangen. Die Soldaten der sowjetischen Division kamen dann von vorn auf uns zu, um uns in Gefangenschaft zu nehmen und zu entwaffnen. Bevor uns die Rotarmisten erreichten, nahmen sich viele Offiziere verschiedener Einheiten das Leben. Wir - meine Besatzung - fuhren unsere Jagdpanzer in ein sumpfiges Wiesenstück, zerschlugen an technischen Geräten, was möglich war, und stiegen dann zu Weiterfahrt auf einen anderen Panzer unserer Kompanie auf. Kurz darauf sahen wir die ersten Rotarmisten auf uns zukommen.

Diese erste Begegnung mit den Russen fiel so unerwartet anders aus, als wir es erwartet hatten, daß sie sich mir auf Lebenszeit eingeprägt hat. Wir wurden von den Rotarmisten umarmt: "Krieg kaputt!" Lachen. Freude. Und bei dieser Begrüßung hörte ich auch immer wieder, wie sich die Rotarmisten rühmten, ihre Einheit sei die sowjetische Waffen-SS. Wir sollten dann wieder auf unsere Panzer aufsitzen. Auf jedes Fahrzeug setzte sich dazu ein Rotarmist. Die Panzerkommandanten durften ihre Pistolen behalten; alle anderen Waffen mußten abgegeben werden. Ich habe dabei meine Pistole noch gegen eine bessere umgetauscht. Als dann herbeigeeilte tschechische Zivilisten den aufgesessenen Sowjetsoldaten Bier hochreichten, gaben sie es erst an uns weiter, bevor sie selber tranken.

Diese so überraschende Erfahrungen hinderte mich und noch einige Kameraden aber nicht, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Bevor wir aufbrachen, hatte ich noch die unangenehme Überraschung, daß einer unserer Mitfahrer mein Gepäck hatte mitgehen lassen. Vielleicht zu unserem Glück stießen wir beim Überqueren einer großen Lichtung auf ein riesiges Gefangenenlager, dem wir nicht mehr ausweichen konnten. Es reichte nur noch, unsere Soldbücher und Pistolen zu vergraben.

Zu den frühen Erfahrungen dieser Tage gehörte, daß es plötzlich unter unseren Kameraden "Österreicher" gab, die ihre eigene Nationalität entdeckt hatten und mit rotweißroten Armbinden herumliefen, um auf diese Weise eher nach Hause zu gelangen. Das waren aber typische Erscheinungen eines Zusammenbruchs. Es gab dann auch niemanden mehr, der in der Partei gewesen war oder einer anderen NS-Organisation angehört hatte; gerade mal die NS-Volkswohlfahrt wurde noch erwähnt. Nur bei uns Jungen war das anders.

Einige Tage verbrachten wir in diesem riesigen Gefangenenlager, von dem ich nur in der Erinnerung habe, daß ich mir Steine an einem offenen Feuer wärmte und mit diesen Steinen am Körper in den noch kalten Nächten geschlafen habe.

Über Neu-Bistritz und Budweis führte uns dann der Weg zu Fuß und per Bahn nach Marmarosziget in Rumänien, wo der Transport der deutschen Gefangenen von der Schmalspur auf die Breitspur wechselte.

Ich bin mir sicher, daß wir beim Marsch durch die Tschechoslowakei den Erhalt unseres Lebens unseren Bewachern zu danken hatten, meist Soldaten aus den asiatischen Teilen der Sowjetunion. Nicht selten nahmen uns unsere Bewacher auch gegen ihre eigenen Landsleute in Schutz, die auf unsere letzten Habseligkeiten au waren. Und dabei begegneten wir auch erstmals Amerikanern, die mit ihren sowjetischen Kameraden in trauter Waffenbrüderschaft auf unsere noch geretteten Uhren aus waren.

In Marmarosziget, dem Umladelager auf Breitspur, herrschte eine vor allem aus Rumänen bestehende Lagerpolizei, von der ich die ersten und einzigen Prügel meines Lebens erhalten habe. Ich hatte mich verbal gegen die Beschimpfung "Faschist" gewehrt und wurde daraufhin in die Wachstube geschleppt und von allen Anwesenden unter übelsten Beschimpfungen zusammengeschlagen.

Erst zehn Jahre später bin ich aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen. Die Jahre vom 19. bis zum 30. Lebensjahr sind mir gestohlen worden. Ich hatte aber das große Glück, diese Jahre zu überleben. Für mich war das Kriegsende der Beginn eines langen Leidens.

Dieter Pfeiffer, Berlin

Foto: Deutsche Soldaten auf dem Weg in die russische Kriegsgefangenschaft ziehen in Berlin an einer Gruppe halbwüchsiger Volkssturmangehöriger vorbei, Mai 1945


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